Donnerstag, 16. Oktober 2014

Ein Tag nach dem Leben

Immer, wenn der Zug vorbeifuhr, schüttelte es das Wasser in seinem Teeglas. Halb so schlimm, wenn der Glas auf dem Tisch abgestellt war. Manchmal müsste man aber aufpassen, dass man es nicht auf irgendwelchen, überall-liegenden, Schriften stellte. Und obwohl die allen Papiere längst nicht mehr so bedeutend waren, passte Ludwig sorgfältig auf, dass nichts darauf stand.
Als er hier eingezogen war, eben schon bei der Besichtigung, das meiste, worüber er dachte, dass es schwer wird sich daran zu gewöhnen, war die Größe der Wohnung. Er war Frisch aus der Zeit herausgerissen, in der ihm ganze drei Zimmern zu Verfügung standen, und diese neue, mickrige Appartament bedeutete jetzt den Anfang einer neuen, die er mit seinem vor-sich-hin-träumen befüllen wird.
Aus der alten Wohnung nahm er nicht allzu viel mit. Schließlich war es ihm wichtig, jetzt den Platz zu sparen, abgesehen davon, dass er plötzlich merkte, wie wenig Gebrauch er für die alle Gegenstände haben wird. Er behielt also ein Bett, Tisch, zwei Stühle und ein Regal und als den einzigen Luxus-Element das Yamaha-Piano.
Und so stapelten sich überall Notizen, Schrifte, Bücher und Arbeiten seinen früheren Studenten. Sie lagen oben auf dem Regal, auf dem Tisch und teilweise sogar auf dem Boden. Ludwig wüsste nicht wirklich, wieso er das alles noch behielt, vielleicht war der Zwang sich mit seinem früheren Leben zu beschäftigen stärker, als das lang andauernde Gefühl der Trauer, das die Gegenwart befüllte.

Manchmal erinnerte ihn der jetzige Stand der Dinge an einem Traum, als ob er kein Unterschied zwischen einer und anderen Minute spüren wurde. In diesem Traum ´spazierte´ er manchmal über das Zimmer und überlegte. Manchmal schaute er aus dem Fenster auf die Dächer der Stadt, in der Hoffnung, sie erscheinen ihm diesmal anders als sonst. Die blieben dagegen unberührt und unbeweglich, gleich arm und nichtssagend.
Manchmal spielte er eine Etude. Chopin liebte er immer, da er alle Persönlichkeiten interessant fand, die schwach und machtlos, und trotzdem zu großer Schöpfung fähig waren. Das Spielen, Notenlesen und der Klang der Musik bedeuteten für ihn den Rückkehr zu der alten, ihm gut bekannten Struktur und erfüllten ihn mit dem Gefühl der Ruhe, und so tröstete er sich selbst immer.
Die Toilette erledigte er in der Früh, beziehungsweise, als er aufstand. Seit er nicht täglich zu der Universität ging und auch Nichts mehr publizierte, gab es zwar keine Struktur mehr, an die man sich halten könnte, und manchmal blieb er bis zu späten Mittagsstunden im Bett.

Ludwig besetzte schon immer kein Telephon und, wenn man dringend wollte, konnte man ihn nur über die e-mail erreichen. Schon immer war es ihm unangenehm, gleich, wenn jemand das wollte, durch das Klingeln des Telephones aufgerufen zu werden. Das schreiben erlaubte ihm dagegen sich zu überlegen, was er im Moment dachte. Als er noch Freunde hatte, schrieb er denen immer zum Schluß irgendwas aufwärmendes, wie ´Mein Schätzchien´, oder ´Lieber´.
Aber Freunde gab es nicht mehr. Es gab niemand mehr, mit dem er seine Existenz bestätigen konnte. Lange hat es gedauert, diese Tatsache zu akzeptieren, schließlich aber hörte es auf ihn dermaßen zu stören und so fand er bestimmte Vorteile darin, was ihn auch beruhigte.

Ludwig ordnete gerne immer wieder erneut die alten Photographien. Die Menschen, die sich auf denen befanden, tasteten ihn nicht mehr an, sondern waren jetzt nur mit einem kleinen Augenblick aus der Vergangenheit verbunden. Als ob er sie jetzt hinten einem Spiegelwand anschauen wurde, wo es auf seinem Platz Stille herrschte, wie in einem leisen Zimmer ohne jegliches, starkes Licht. In den Momenten reflektierte er, spürte aber kein inneres Schmerz dabei, und anschließend packte alles wieder zusammen in das kleine Schuhkarton und legte wieder ab.
Meistens liebte er die Bilder seinen Studenten anzuschauen. Wie er sich noch erinnerte, nahm man sie immer ein Mal im Jahr auf, bei einem Professionellen Photographen. Der Photograph berechnete auch immer nicht allzu viel, da er gleich die ganze Gruppe zu aufnehmen hatte und deshalb Angebote machte. Ludwig begleitete immer seine Studenten zum Photographen und unterhielt sich gerne bezüglich allen technischen Einzelheiten. Er wusste, dass man bei solchen Aufnahmen ein spezielles Licht anbaute und sogar speziell die Gesichter der Studenten pudern musste. Wie bewunderte er immer die Effekte diesen Bemühungen. Dieses Technisches wissen und Handwerkliches können, machte für ihn immer das essenzielle diesen Bilder aus, auf denen seine Studenten wie Filmstars strahlten. So weit entfernt waren sie von seinen abstrakten Überlegungen über die Materie der Dinge, das Effekt freute ihn jedoch immer.
Jetzt gab es aber keine Studenten mehr, zumindest nicht in seiner Gegenwart. Sein Publikum, dass immer treu zuhörte, war nicht mehr da. Er fühlte sich nicht ganz ohne dieses Auditorium, mit der Zeit aber waren seine Gedanken schon zu weit, um jegliches Trauer zu spüren. Wie in einem Zug, in dem er sich ebenso gut woanders setzten könnte, aber der Platz, den er gewählt hatte doch besser war.

Er wüsste nicht mehr ganz genau, seit wann es ihm wichtig war die Gläser zu polieren. Er hatte zwar keinen bestimmten Zeitpunkt dafür, machte es aber immer ein Mal in der Woche. Und obwohl niemand kam, dem man in so einem Glas etwas einschenken könnte, pflegte er diese Angewohnheit. So standen sie immer und blinzelten tief versteckt in dem Küchenschrank.
Alle die Gläser, die Ludwig besaß, kaufte er mal zum Jahresjubiläum der Mauerfall. Es ist schwierig zu sagen, wem das Jubiläum wichtiger war, ihm, oder Marenike, auf jeden Fall besaß er seit dem Tag ein Komplett der Gläser, zu 50 Euro jeder.
Polieren tat er immer nach der gleichen Prozedur: er nahm ein Tablett und stellte es auf dem Tisch. Anbei versicherte er sich immer, dass das Tablett sicher stand und nicht zufällig verrutschte, obwohl er tief im Hinterkopf wusste, dass es unmöglich wäre. Dann stellte er die Gläser auf dem Tablett und holte ein Eimer Wasser. Er messte anbei auch immer die Temperatur des Wassers, da zu heißes Wasser angeblich die Gläser beschädigen könnte.
Dies tat er gern, obwohl es ihm bewusst war, dass das das einzige war, was Marenike nach sich hinterlassen hat, als sie ging. Marenike sagte immer ´Wir wären glücklicher, wenn du nun mehr Interesse an die Welt zeigen würdest´. Das verstand er nie, besonders in den Momenten, als sie, wie gewöhnt, diesen Satz beim Frühstücken ausgesprochen hatte. Inwiefern sollte sein Interesse irgendeine Welt ändern, war eine Unbekannte. Immer traf er sie dann auch in der Kantine zu Mittag und suchte verzweifelt nach einem Thema, schließlich sprachen sie über Marenikes Tagesplan.
Die Gläser trocknete er immer mit einem der beiden Tücher, die er dafür vorbereitete. Dann trocknete er auch das nasse Tablett und verließ die Küche.

Seit er ohne den Dritten in seinem Leben, aber auch ohne sich einsam zu fühlen lebte, spielte es für ihn nicht allzu große Rolle, ob er gepflegt, oder ungepflegt vorkam. Sich selbst betrachtete er im Spiegel ganz trocken, ohne jegliches Gefühl bezüglich seinem Aussehen. Nur die Zähne waren wichtig. Es konnte ihn zum Wahnsinn treiben, wenn sein Mund nicht frisch war. Er musste dann an alle alte Menschen in der Tram denken, die neben ihn standen oder saßen. Wenn sein Mund also nur ein wenig roch, kam er gleich auf Gedanken, sich mit seinem Alter auseinander zu setzen und das brachte ihm Kummer.
Er nutzte immer die Zahncreme, Zahnseide und noch ein ätherisches Öl, dass, besonders, als er Pfeife zu rauchen angefangen hatte, in der Reinigung der Zwischenräumen half. Er opferte dafür immer Halbe Stunde Zeit und ging sehr detailliert vor. Er kümmerte sich, dass die Seide immer frisch war und gleitete zwischen den Zähnen, bis die kleinste Chance, dass sich dort noch irgendwas befand, nicht mehr bestand. Er passte auf, dass das Öl nicht auf das Zahnfleisch geriet, da es immer ein unangenehmes Gefühl bringen könnte.
Diese detaillierte Zahnpflege tat er immer, auch in der Zeit, in der er nicht mehr seine Arbeiten von denen seiner Studenten unterscheiden konnte. Anbei waren nur Wörter, Hypothesen und Behauptungen anwesend und sie bildeten Struktur, die er vor den Augen hatte. Auch während des Prozesses tat er sie als das wichtigste unter allen wichtigen Dingen.
In der Zeit, in der Ludwig selber ein Student war, gab es kein Eigentum. Ein studentisches Beweis war ein Gemeingut und man freute sich, dass es ihn gab. Das Wissen war flüssig und gehörte jedem. Dennoch war das nicht mehr ´Ludwigs´ Zeit. Daran dachte er aber überhaupt nicht. Für ihn gab es eher keine Ära, keine Geschichte, sondern nur Struktur.
Ludwig dachte nicht mehr viel nach und spülte den Mund.

Er lag aufrecht und lauschte. Die Uhr arbeitete leise mit ihrem Tik-Tak. Im Augenwinkel sah er das schwache Licht der Straße und ab und zu hörte er den Zug vorbeifahrend. In der Dunkelheit, die ihn langsam sanft umhüllte, befand er sich in dem zustand des Halb-wach-seins, und diesen Zustand wollte er behalten. Auf irgendeine Weise wollte er noch nicht weiter gehen, spürte jedoch, hier endet sich seine Macht.
Er hörte die Uhr im Hintergrund, befand sich jedoch weit von diesem dunklem Zimmer, obwohl dessen Existenz ihm ganz bewusst war. Jetzt saß er im Boot. Das Boot war nicht groß und überall lagen Fischernetze rum. Überall roch es auch nach Fisch. Das dunkelgrüne Wasser plantschte um den Becken, das Meer war ruhig. Ludwig spürte den leichten Wind und die aufwärmende Sonne auf seinem Gesicht. Bevor er nach den Padeln zu suchen angefangen hatte, merkte er dass das Boot bewegt sich von selbst. Ruhig saß er also da und schaute Richtung Boden.
Auf dem Boot-Rand setzte sich eine weiße Möwe hin. Das strahlende Weiß, noch heller in der Sonne, kam Ludwig fast unnatürlich vor. So hell, dass man nicht lange hinschauen konnte, ohne die Augen zu bedecken. Die Möwe machte einen kleinen `Spaziergang´ am Rand des Bootes, schaute Ludwig interessiert an und flog wieder.
Das Boot näherte sich langsam dem Boden. Anfangs erkannte Ludwig ein dünnes Streifen, jetzt war die Linie komplex, wie eine Zeichnung, wo er den Strand erkannte. Das Wasser war nicht mehr Dunkel und man konnte den Boden sehen. Kleine Fische sammelten sich um den Boot herum und spielten miteinander wie junge Katzen, die erst zu sehen anfangen.
Ludwig spürte, wie die Sonnenstrahlen ihn durchstreifen und sein Inneres mit Wärme füllen. Er stieg aus dem Boot. Das warme Sand unter seinen Füßen brannte nicht, sondern gab ein angenehmes Gefühl. Ludwig sah ein Stein und setzte sich.
Lange geschah Nichts. Er saß auf dem Stein, mitten des Strandes, es war ihm warm von der Sonne und er lauschte die Stille. Vor ihm war Meer und alles war ruhig. Plötzlich fühlte er eine leichte Bewegung, als ob ein müdes Geist kommen würde, sich neben ihm auszuruhen. Ludwig sah sich um. Unten, am Strand, saß die Möwe.
Die Möwe schaute Ludwig eine Weile an, als ob sie sich etwas überlegen wurde. Dann sagte sie:
´Kein Fisch ist dumm, wenn er nach dem Brunnen sucht`.

Ludwig weinte und seine Tränen flossen unendlich.



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