Immer, wenn der Zug
vorbeifuhr, schüttelte es das Wasser in seinem Teeglas. Halb so
schlimm, wenn der Glas auf dem Tisch abgestellt war. Manchmal müsste
man aber aufpassen, dass man es nicht auf irgendwelchen,
überall-liegenden, Schriften stellte. Und obwohl die allen Papiere
längst nicht mehr so bedeutend waren, passte Ludwig sorgfältig auf,
dass nichts darauf stand.
Als er hier eingezogen war,
eben schon bei der Besichtigung, das meiste, worüber er dachte, dass
es schwer wird sich daran zu gewöhnen, war die Größe der Wohnung.
Er war Frisch aus der Zeit herausgerissen, in der ihm ganze drei
Zimmern zu Verfügung standen, und diese neue, mickrige Appartament
bedeutete jetzt den Anfang einer neuen, die er mit seinem
vor-sich-hin-träumen befüllen wird.
Aus der alten Wohnung nahm
er nicht allzu viel mit. Schließlich war es ihm wichtig, jetzt den
Platz zu sparen, abgesehen davon, dass er plötzlich merkte, wie
wenig Gebrauch er für die alle Gegenstände haben wird. Er behielt
also ein Bett, Tisch, zwei Stühle und ein Regal und als den einzigen
Luxus-Element das Yamaha-Piano.
Und so stapelten sich
überall Notizen, Schrifte, Bücher und Arbeiten seinen früheren
Studenten. Sie lagen oben auf dem Regal, auf dem Tisch und teilweise
sogar auf dem Boden. Ludwig wüsste nicht wirklich, wieso er das
alles noch behielt, vielleicht war der Zwang sich mit seinem früheren
Leben zu beschäftigen stärker, als das lang andauernde Gefühl der
Trauer, das die Gegenwart befüllte.
Manchmal erinnerte ihn der
jetzige Stand der Dinge an einem Traum, als ob er kein Unterschied
zwischen einer und anderen Minute spüren wurde. In diesem Traum
´spazierte´ er manchmal über das Zimmer und überlegte. Manchmal
schaute er aus dem Fenster auf die Dächer der Stadt, in der
Hoffnung, sie erscheinen ihm diesmal anders als sonst. Die blieben
dagegen unberührt und unbeweglich, gleich arm und nichtssagend.
Manchmal spielte er eine
Etude. Chopin liebte er immer, da er alle Persönlichkeiten
interessant fand, die schwach und machtlos, und trotzdem zu großer
Schöpfung fähig waren. Das Spielen, Notenlesen und der Klang der
Musik bedeuteten für ihn den Rückkehr zu der alten, ihm gut
bekannten Struktur und erfüllten ihn mit dem Gefühl der Ruhe, und
so tröstete er sich selbst immer.
Die Toilette erledigte er
in der Früh, beziehungsweise, als er aufstand. Seit er nicht täglich
zu der Universität ging und auch Nichts mehr publizierte, gab es
zwar keine Struktur mehr, an die man sich halten könnte, und
manchmal blieb er bis zu späten Mittagsstunden im Bett.
Ludwig besetzte schon
immer kein Telephon und, wenn man dringend wollte, konnte man ihn nur
über die e-mail erreichen. Schon immer war es ihm unangenehm,
gleich, wenn jemand das wollte, durch das Klingeln des Telephones
aufgerufen zu werden. Das schreiben erlaubte ihm dagegen sich zu
überlegen, was er im Moment dachte. Als er noch Freunde hatte,
schrieb er denen immer zum Schluß irgendwas aufwärmendes, wie ´Mein
Schätzchien´, oder ´Lieber´.
Aber Freunde gab es nicht
mehr. Es gab niemand mehr, mit dem er seine Existenz bestätigen
konnte. Lange hat es gedauert, diese Tatsache zu akzeptieren,
schließlich aber hörte es auf ihn dermaßen zu stören und so fand
er bestimmte Vorteile darin, was ihn auch beruhigte.
Ludwig ordnete gerne
immer wieder erneut die alten Photographien. Die Menschen, die sich
auf denen befanden, tasteten ihn nicht mehr an, sondern waren jetzt
nur mit einem kleinen Augenblick aus der Vergangenheit verbunden. Als
ob er sie jetzt hinten einem Spiegelwand anschauen wurde, wo es auf
seinem Platz Stille herrschte, wie in einem leisen Zimmer ohne
jegliches, starkes Licht. In den Momenten reflektierte er, spürte
aber kein inneres Schmerz dabei, und anschließend packte alles
wieder zusammen in das kleine Schuhkarton und legte wieder ab.
Meistens liebte er die
Bilder seinen Studenten anzuschauen. Wie er sich noch erinnerte, nahm
man sie immer ein Mal im Jahr auf, bei einem Professionellen
Photographen. Der Photograph berechnete auch immer nicht allzu viel,
da er gleich die ganze Gruppe zu aufnehmen hatte und deshalb Angebote
machte. Ludwig begleitete immer seine Studenten zum Photographen und
unterhielt sich gerne bezüglich allen technischen Einzelheiten. Er
wusste, dass man bei solchen Aufnahmen ein spezielles Licht anbaute
und sogar speziell die Gesichter der Studenten pudern musste. Wie
bewunderte er immer die Effekte diesen Bemühungen. Dieses
Technisches wissen und Handwerkliches können, machte für ihn immer
das essenzielle diesen Bilder aus, auf denen seine Studenten wie
Filmstars strahlten. So weit entfernt waren sie von seinen abstrakten
Überlegungen über die Materie der Dinge, das Effekt freute ihn
jedoch immer.
Jetzt gab es aber keine
Studenten mehr, zumindest nicht in seiner Gegenwart. Sein Publikum,
dass immer treu zuhörte, war nicht mehr da. Er fühlte sich nicht
ganz ohne dieses Auditorium, mit der Zeit aber waren seine Gedanken
schon zu weit, um jegliches Trauer zu spüren. Wie in einem Zug, in
dem er sich ebenso gut woanders setzten könnte, aber der Platz, den
er gewählt hatte doch besser war.
Er wüsste nicht mehr ganz
genau, seit wann es ihm wichtig war die Gläser zu polieren. Er hatte
zwar keinen bestimmten Zeitpunkt dafür, machte es aber immer ein Mal
in der Woche. Und obwohl niemand kam, dem man in so einem Glas etwas
einschenken könnte, pflegte er diese Angewohnheit. So standen sie
immer und blinzelten tief versteckt in dem Küchenschrank.
Alle die Gläser, die
Ludwig besaß, kaufte er mal zum Jahresjubiläum der Mauerfall. Es
ist schwierig zu sagen, wem das Jubiläum wichtiger war, ihm, oder
Marenike, auf jeden Fall besaß er seit dem Tag ein Komplett der
Gläser, zu 50 Euro jeder.
Polieren tat er immer
nach der gleichen Prozedur: er nahm ein Tablett und stellte es auf
dem Tisch. Anbei versicherte er sich immer, dass das Tablett sicher
stand und nicht zufällig verrutschte, obwohl er tief im Hinterkopf
wusste, dass es unmöglich wäre. Dann stellte er die Gläser auf dem
Tablett und holte ein Eimer Wasser. Er messte anbei auch immer die
Temperatur des Wassers, da zu heißes Wasser angeblich die Gläser
beschädigen könnte.
Dies tat er gern, obwohl
es ihm bewusst war, dass das das einzige war, was Marenike nach sich
hinterlassen hat, als sie ging. Marenike sagte immer ´Wir wären
glücklicher, wenn du nun mehr Interesse an die Welt zeigen würdest´.
Das verstand er nie, besonders in den Momenten, als sie, wie gewöhnt,
diesen Satz beim Frühstücken ausgesprochen hatte. Inwiefern sollte
sein Interesse irgendeine Welt ändern, war eine Unbekannte. Immer
traf er sie dann auch in der Kantine zu Mittag und suchte verzweifelt
nach einem Thema, schließlich sprachen sie über Marenikes
Tagesplan.
Die Gläser trocknete er
immer mit einem der beiden Tücher, die er dafür vorbereitete. Dann
trocknete er auch das nasse Tablett und verließ die Küche.
Seit er ohne den Dritten
in seinem Leben, aber auch ohne sich einsam zu fühlen lebte, spielte
es für ihn nicht allzu große Rolle, ob er gepflegt, oder ungepflegt
vorkam. Sich selbst betrachtete er im Spiegel ganz trocken, ohne
jegliches Gefühl bezüglich seinem Aussehen. Nur die Zähne waren
wichtig. Es konnte ihn zum Wahnsinn treiben, wenn sein Mund nicht
frisch war. Er musste dann an alle alte Menschen in der Tram denken,
die neben ihn standen oder saßen. Wenn sein Mund also nur ein wenig
roch, kam er gleich auf Gedanken, sich mit seinem Alter auseinander
zu setzen und das brachte ihm Kummer.
Er nutzte immer die
Zahncreme, Zahnseide und noch ein ätherisches Öl, dass, besonders,
als er Pfeife zu rauchen angefangen hatte, in der Reinigung der
Zwischenräumen half. Er opferte dafür immer Halbe Stunde Zeit und
ging sehr detailliert vor. Er kümmerte sich, dass die Seide immer
frisch war und gleitete zwischen den Zähnen, bis die kleinste
Chance, dass sich dort noch irgendwas befand, nicht mehr bestand. Er
passte auf, dass das Öl nicht auf das Zahnfleisch geriet, da es
immer ein unangenehmes Gefühl bringen könnte.
Diese detaillierte
Zahnpflege tat er immer, auch in der Zeit, in der er nicht mehr seine
Arbeiten von denen seiner Studenten unterscheiden konnte. Anbei waren
nur Wörter, Hypothesen und Behauptungen anwesend und sie bildeten
Struktur, die er vor den Augen hatte. Auch während des Prozesses tat
er sie als das wichtigste unter allen wichtigen Dingen.
In der Zeit, in der Ludwig
selber ein Student war, gab es kein Eigentum. Ein studentisches
Beweis war ein Gemeingut und man freute sich, dass es ihn gab. Das
Wissen war flüssig und gehörte jedem. Dennoch war das nicht mehr
´Ludwigs´ Zeit. Daran dachte er aber überhaupt nicht. Für ihn gab
es eher keine Ära, keine Geschichte, sondern nur Struktur.
Ludwig dachte nicht mehr
viel nach und spülte den Mund.
Er lag aufrecht und
lauschte. Die Uhr arbeitete leise mit ihrem Tik-Tak. Im Augenwinkel
sah er das schwache Licht der Straße und ab und zu hörte er den Zug
vorbeifahrend. In der Dunkelheit, die ihn langsam sanft umhüllte,
befand er sich in dem zustand des Halb-wach-seins, und diesen Zustand
wollte er behalten. Auf irgendeine Weise wollte er noch nicht weiter
gehen, spürte jedoch, hier endet sich seine Macht.
Er hörte die Uhr im
Hintergrund, befand sich jedoch weit von diesem dunklem Zimmer,
obwohl dessen Existenz ihm ganz bewusst war. Jetzt saß er im Boot.
Das Boot war nicht groß und überall lagen Fischernetze rum. Überall
roch es auch nach Fisch. Das dunkelgrüne Wasser plantschte um den
Becken, das Meer war ruhig. Ludwig spürte den leichten Wind und die
aufwärmende Sonne auf seinem Gesicht. Bevor er nach den Padeln zu
suchen angefangen hatte, merkte er dass das Boot bewegt sich von
selbst. Ruhig saß er also da und schaute Richtung Boden.
Auf dem Boot-Rand setzte
sich eine weiße Möwe hin. Das strahlende Weiß, noch heller in der
Sonne, kam Ludwig fast unnatürlich vor. So hell, dass man nicht
lange hinschauen konnte, ohne die Augen zu bedecken. Die Möwe machte
einen kleinen `Spaziergang´ am Rand des Bootes, schaute Ludwig
interessiert an und flog wieder.
Das Boot näherte sich
langsam dem Boden. Anfangs erkannte Ludwig ein dünnes Streifen,
jetzt war die Linie komplex, wie eine Zeichnung, wo er den Strand
erkannte. Das Wasser war nicht mehr Dunkel und man konnte den Boden
sehen. Kleine Fische sammelten sich um den Boot herum und spielten
miteinander wie junge Katzen, die erst zu sehen anfangen.
Ludwig spürte, wie die
Sonnenstrahlen ihn durchstreifen und sein Inneres mit Wärme füllen.
Er stieg aus dem Boot. Das warme Sand unter seinen Füßen brannte
nicht, sondern gab ein angenehmes Gefühl. Ludwig sah ein Stein und
setzte sich.
Lange geschah Nichts. Er
saß auf dem Stein, mitten des Strandes, es war ihm warm von der
Sonne und er lauschte die Stille. Vor ihm war Meer und alles war
ruhig. Plötzlich fühlte er eine leichte Bewegung, als ob ein müdes
Geist kommen würde, sich neben ihm auszuruhen. Ludwig sah sich um.
Unten, am Strand, saß die Möwe.
Die Möwe schaute Ludwig
eine Weile an, als ob sie sich etwas überlegen wurde. Dann sagte
sie:
´Kein Fisch ist dumm, wenn
er nach dem Brunnen sucht`.
Ludwig weinte und seine
Tränen flossen unendlich.
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