Montag, 6. Oktober 2014

Der Vergessene

         15, 16, 17 – zählte er laut – 18, 19, 20. Diese sechs zahlen ließen ihn wissen, dass es schon sechs Tage vergangen sind, seit er das letzte mal alle gesammelten ausgaben der Tageszeitung weggeworfen hatte. Heute war es also Samstag. Ein Tag bis zum Sonntag. Morgen wird er sie alle zusammen bringen und für wegschmeißen vorbereiten. Dieses kleine Ritual bedeutete immer den letzten Tag der Woche, den Tag, an dem alles zu ende ging und an dem er wüsste morgen fängt alles neu an. Und dieser Tag hat gerade eben sein Kommen angekündigt.

Der Vergessene kümmerte sich ansonsten nicht um das Vergehen der Zeit. Seit Jahren schon fand er es sinnlos die Termine aufzuschreiben, seinen letzten Kalender hatte er in die Schublade mit der Bezeichnung ´Unwichtiges´ hineingesteckt, als er merkte, seit Anfang des Jahres hat sich eher nichts geändert. Schließlich ist er auch zum Schluß gekommen, sein leben ist ja eh so eintönig und ereignisslos geworden, dass es wirklich im ganzen kein Sinn ergab, das Zeugniß davon noch auf dem Papier zu haben. Die Stille seines Lebens würde zwar ab und an von jeglichen Terminen unterbrochen, an die errinerte ihn aber immer am Telefon die Stimme einer Person der Staatlichen Einrichtung, die sich darum kümmerte, dass es ihm einigermaßen gut ging, dass er mit allem nötigen versorgt war und diese seltenen Termine wahrnahm .

Die Telefonate nahm er immer zuverlässig und sorgfältig an. Es könnte ja schließlich etwas amtliches gewesen sein, als etwa dass er zu einem verhör gerufen würde oder das jemand geheiratet hätte oder gestorben wäre ( wer das sein sollte, kam ihm nicht in den Sinn, aber wer weiß, alles kann mal passieren). Oder Mary würde sich verspäten, da es ihr länger beim einkaufen ergangen sei, oder Hilde wäre krank.

Die Wohnung, in der der vergessen Lebte verfügte über ein Schlafzimmer, in dem er jeden Abend um 23.30 schlafen ging, als die Geräusche der Stadt Ohne Fluss, die ihn tagsüber wach hielten, langsam zu ruhe kamen , von einem Wohnzimmer und einer Küche, die Mary immer tüchtig am ende ihres Besuches aufgeräumt hatte. Dies tat sie immer als ihr tägliches Besuch zu Ende ging, obwohl der Vergessene schon längst keine echte Logik darin sah. Dieser Pflicht von ihr blieb für den Vergessenen vom Anfang bis zum Ende ganz unverstanden.
Mary ärgerte es immer als er sie Fräulein Mary nannte. - Diese Bezeichnung wäre angemessen für ein Dienstmädchen, nicht für eine Krankenschwester mit staatlichen Kompetenzen und noch dazu mittleres Alters, Mr T. - pflegte sie zu sagen. Allerdings nahm Ihre stimme eine etwa zornige Färbung an, als ob jemand etwas sagen würde, weswegen sie ihm nicht wirklich böse sein konnte, etwa als sie mit ihm zum Spaß nur streiten würde. Der Vergessene antwortete dann nun mit einem blasen Lächeln seiner eigener Art und sagte nichts mehr dazu.
Irgendwann ging sie dann wieder und lass ihn allein.

In dem zentralen Punkt des Wohnzimmers der Wohnung, die der vergessene bewohnte, befand sich das Telefon. Außer der Mikrowelle, war das der einzige Gerät, den er besitzte, der mit Strom versorgt würde. Diese Tatsache freute ihn jedes mal, wenn er daran dachte, weil er immer behauptete, Strom wäre viel teurer geworden und, abgesehen davon, ist es viel vernünftiger mit Gas den Haushalt zu versorgen. Und, obwohl man zu den Zeiten des Vergessenen schon längst andere Energiequellen gefunden hat, waren diese ihm dermaßen fremd und unantastbar, dass er sich konsequent weigerte, die ins Betracht zu nehmen. Ihm halfen auch gar nicht die Geschichten über der wunderbaren Solarenergie, die ihm bei der Jahresablesung der Junger Man erzählte, der früher Arbeitslos war und jetzt bei der Arbeit die Machenschaften des Amtes für Energieversorgung offen kritisierte, da er ´im tiefsten Herzen´ immer noch ´kontra´ war.
Wie alles in seiner bescheidenen Wohnung, war das Telefon altmodisch und kannte schon ´bessere´ Zeiten. Trotzdem, wenn er nur sagen konnte, das er etwas in dieser Wohnung liebte, war das das Telefon. Stunden lang starrte er es manchmal an, seine kreisförmige Tastatur, die man durch drehen betätigte, den rundlichen Hörer, der mit einem Kabelschnur mit dem Rest des Apparates verbunden war.
Ihm gefiel die zeit, in der er wartete, bis auf jemand anrief, in der er manchmal den Hörer am Ohr hielt, um sich die stumme Leitung anzuhören. Und obwohl es manchmal den ganzen Tag nichts geschah, verweilte er so den ganzen Nachmittag in der Stille, die er mit niemandem teilte.
Nicht mal mit Hilde.
Der Vergessene und Hilde trafen sich das erste Mal an der Jährlichem Treffen der Betreuten der Staatlichen Einrichtungen. Hilde nahm ein Gläßchen zu viel zu sich und erzählte ganz aufgeregt, dass die Jugend heutzutage ganz unverschämt ist und dass sich die Behörden schon längs kümmern sollten, das sie mehr Zeit bei sinnvollen Nachmittagsbeschäftigungen verbringen sollte, nicht nur sich ´in den frechen Gruppen durch die Stadt zu schleichen´.
Und obwohl sowohl die Behörden, als auch die Jugend dem Vergessenen ganz gleichgültig waren, hat er sich bald mit dieser Kameradin, deren Wangen die Narben nach der noch in ihren Mädchen-Jahren erlebten Akne bedeckten, ganz gut zurechtgefunden.
Es störten ihn nicht ihre manchmal stunden dauernde Monologe und Vorträge über die guten Sitten und mangeln der Leistungen von den Staatlichen Einrichtungen, die ab und an in einem Tropfen Alkohols, und zwar nicht dem der besten Sorte, gedünstet waren. Wöchentliche Treffen mit Hilde, die ein, ebenso wie er sein, bescheidenes Appartament drei Straßen weiter bewohnte waren bald zu Angewohnheit geworden und einem Priorität an jedem Mittwochabend.

Wenn der Vergessene noch jünger wäre, wäre sein erste Gedanke an jenem Morgen, den Hund zu futtern und mit ihm Spazieren zu gehen. Damals, als der Hund noch lebte, kaufte der Vergessene immer das Futter der Marke ´Billy` aus dem untersten Regal, was auch höchstwahrscheinlich schließlich den Hund umgebracht hatte.
An jenem morgen bellte der Hund aber nicht mehr, und er wusste auch nicht mehr genau seit wann. An jenem Morgen tat es ihm auf jeden Fall nicht mehr Leid.
Sein erster Gedanke hängte an der Tageszeitung, derselben, die ihm erlaubte, sich noch den heutigen Tag zu merken. Als er den kalten Boden unter den Füßen spürte, machte er kurze Bemerkung über den zustand seiner Pantoffeln und dachte, dass es schon an die Zeit wäre, zum ´Markt´ zu gehen. Mit diesem Gedanke im Hinterkopf ging er zu Türe.
Die Tageszeitung würde täglich zwischen 6.45 und 7.30 Uhr ausgeliefert, in die Briefkästen eingeworfen und wartete auf den Vergessenen um die gleiche Zeit jeweiliges Tages.
Seit der Vergessene merkte, es geschahen ganz selten jegliche Attentate, konzentrierte er seine Gedanken an dem Kulturteil. Und obwohl er nicht – nicht Mal in seiner Vergangenheit - zu den kultivierten Menschen gehörte, fand er es sinnvoll sich in diesen Teil genau einzulesen. Ganz abgesehen davon, dass er so gut wie nie ins Theater oder Kino ging, allein die Vorstellung, dass es die Orte gibt, in denen sich die Menschen versammeln um sich aufregende Dinge anzusehen, erfühlte ihn mit einem Gefühl der Erregung, was eine ziemliche Abwechslung in seinen Alltag brachte.
Immer versuchte er auch Mary dazu zu überreden, einer diesen Orte zu besuchen, die erklärte sich immer aber als ´zu beschäftigt um sich ihre Zeit mit irgendwelchen überflußigen Sachen zu vergeuden´.
Weiterhin blätterte er zu der Rubrik ´zu verschenken´. Dort standen immer irgendwelche, noch brauchbare Dinge, an die er die Hilde aufmerksam machen konnte. Die meistens interessante Annoncen hieb er sorgfältig auf und steckte in den weißen Umschlag, um sie zum Besuch am Mittwoch mitzunehmen.
Zum Schluß richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Artikel über die Migration zwischen Satelliten-Dörfer und Der Stadt Ohne Fluß. Man berichtete, es werden zusätzlich Bahne eingeführt, da der Verkehr in der letzten Zeit rasant gestiegen ist.
So vergingen erste stunden des Tages.

Meistens die Sachen, die der Vergessene besaß, besaß er schon seit der Zeit, an die er sich nicht mehr erinnerte. Auf Grund seines beschränkten Nutzen von denen war alles, was zu seinen Dingen gehörte, kaum verbraucht und in dem Zustand, den man zwar kein ´neuster Stand´nennen konnte, aber auf jeden Fall ´noch funktionstüchtig´ - auch, wenn es nicht so wäre, dauerte es lange, bis auf er sich entschied, etwas altes mit etwas neuem zu ersetzen.
Nicht, dass es ihn nicht freuen würde, sich eine Kleinigkeit praktischer Anwendung zu gönnen. Im Gegensatz, der Gedanke, etwas neues zu besitzen erfüllte ihn immer mit einem Hauch von Freude und befriedigte sein selten verspürtes Bedürfniss nach bürgerlichen Qualitäten des Lebens. Wie gut es ihm ging, als er durch die engen Straßen des ´Marktes´ schwebte und sich alles, Stück um Stück merkte. Und obwohl er immer wusste, was genau sein Ziel war – die Spontanität war nicht gerade eine seiner stärken – merkte er sich jegliche Kleinigkeit.
Er bewunderte den Fleiß der Marktfrauen, die ganz tüchtig alle die Wahren zählten, verpackten und den Kunden hinreichten. Der Klang der sich öffneten Kasse bedeutete immer, das die Transaktion abgeschlossen war und dem Kunde zu seiner Freude sein frisch-erworbenes Gut gehörte. Er zählte immer die Pfannen an dem Stand mit Haushaltswaren, von den ganz schweren, mit der schwarzen Beschichtung, bis zu den silbrigen, leichten Pfannen – anbei kontrollierte er immer, ob der Preis absteigend angelegt sei. Er hielt sogar bei den Damenstrumpfen an und fragte sich, ob sich Mary auf dem ´Markt´ auch welche mal gekauft hatte. Die wies ihn immer darauf hin, dass ´einem Man steht es nicht zu, Frauen ihres Alters dazu zu befragen´.


Ab und an kreuzten an ihn Menschen vorbei mit ganz verpackten Wägen, an denen sich riesige Berge den Waren stapelten, die zwar nicht alle vom ´Markt´ kamen, die jedoch ihre Eigentürmer sorgfältig in viele kleine Tütchen eingepackt und mitgenommen haben. Und, obwohl ihm die Gesichter von diesen Menschen ganz unlesbar und unbekannt vorkamen, müsste er bei dem Anblick von ihren verpackten Wägen an Hilde denken.
Er fragte sich öfters, woher sie alle Ihre Dinge her hatte. Manchmal, als er ihr beim Abwasch mitgeholfen hatte, verriet der Zustand der Exemplare ihrer Kollektionen nicht gerade mal die sauberste Herkunft, bei manchen dagegen war er sich sicher, dass sie sie irgendwo gegen Geld erworben hätte.
Als er schließlich bei dem Stand mit Pantoffeln angekommen sei, spürte er Müdigkeit und war schon genug durch den ´Markt´gegangen. Er beabsichtigte nicht allzu lange an den Wahl zu zweifeln – er kaufte ja den selben Paar jedes Jahr. Schweigend nahm er den selben Paar Schuen, gab dem Verkäufer die zerkniterten Scheine und ging.
Der Abendfrost war zu spüren.


In der Wohnungstür befanden sich drei Schlösse.
Normalerweise würde der Vergessene anwesend sein, als Mary ihr Abwasch erledigt hatte. Diesmal aber bettete er sie die Schlüssel mitzunehmen und die Türe sorgfältig abzuschließen, und zwar mit allen drei Schlössen, da es immer möglich sei, dass jemand einbrechen könnte. Und, obwohl er nicht auf die Idee kam, wer das sein konnte, die Tatsache der unverschlossenen Türen brachte ihn auf unangenehme Gedanken.
Obwohl Mary ihre Dienste schon seit Jahren geleistet hatte und als eine anvertraute Person galt, der Gedanke, jemand nahm die Schlüßel mit erfreute den Vergessenen ganz und gar nicht.
Dies zeigte sich auch an seiner Stimmung bezüglich der gewöhnlichen Sauberkeit und Ordnung, die sie nach sich hinterließ.
Er stand im Flur, mit der Papiertüte in der Hand und hängte sein Blick auf den abgenutzten Pantoffeln. Steckte die Tüte in den Wandschrank rein und zog die Pantoffeln an.

Im Kühlschrank befanden sich drei Tupaboxen, die entsprechend als ´Morgen´, ´Mittag´ und ´Abend´ beschriftet waren. Der Vergessene nahm das oberste Box, steckte es in die Mikrowelle und drückte den Knopf. Schweigend beobachtete er das Drehen des Untertellers und die Wanduhr. Er zählte fünf Minuten ab, nahm das Box und ging zum Tisch.
Schweigend Schluckte er und verdaute die Erbsen und Kartoffeln, die Mary vorbereitet hatte und, obwohl sie sich immer viel mühe gab, dass es ihm schmeckte, was sie gekocht hatte, empfand er die Mahlzeit als ganz eintönig, wie jeden Tag.
Der Vergessene wüsste nicht mehr, seit wann genau ihn Mary unterstützte. Die Betreuerin von den Staatlichen Einrichtungen meinte mal, Mary kam irgendwo aus irgendeinem der Satellit-dörfer. Über die Dörfler wüsste er, dass sie Täglich nach die Stadt Ohne Fluss fuhrten, um dort als Pfleger, Büro-angestellte oder Kontrolleure zu arbeiten. Manche waren auch bei der Tageszeitung in der Anzeigeannahme beschäftigt.
´Fräulein Mary´, wie er sie nannte, stand irgendwo im Alter von mitte 50. Der Vergessene wüsste nicht mehr, wie sie bei ihm angetroffen war. sie war eben da und kochte täglich und reichlich. Drei Mahlzeiten gab es immer, und immer etwas anderes, für jeden Tag der Woche. Ebenso bemühte sie sich um den Rest des Haushaltes.
Aber egal, wie viel Mühe sie sich gab, für ihn gehörte sie immer zu den ´Unsichtbaren´ Menschen. Er merkte sie kaum, als sie sich mit ihrer Arbeit bei ihm beschäftigte. Für ihn hinterließ ihre Anwesenheit Anzeichen von überall werdenden Sauberkeit und Ordnung und deswegen existierte sie auch in seiner Erinnerung. Diese Erinnerung war jedoch immer flüchtig und gleich vergaß er sie. Ihre kurze Gespräche beendete immer sein blases Lächeln und jeder kehrte danach zu seiner Beschäftigung zurück, beziehungsweise sie zu ihrer.
Da er selbst an nichts mehr glaubte, fragte er sich auch nicht mehr, ob die anderen es taten. Manchmal ging er zwar kirchen, aber eher um sich die Heiligen anzusehen und die Orgeln anzuhören. Dafür wählte er immer die Abendmesse, da ihm das Licht am besten entsprach.
Manchmal sah er Mary, wie sie in der einen von zwei Arbeitspausen die ihr von der Staatlichen Einrichtungen zugeschrieben waren, rauchend das heilige Bild an der Küchenwand betrachtete. Manchmal hörte sie auf zu rauchen und saß längere Zeit vor dem Bild. Angeblich dachte sie etwas anbei und sprach leise vor sich hin.
Was aber, dies stand außer seiner Vorstellungskraft.
Er beendete das Essen und kochte Tee. Der Tag war vorüber.



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