Montag, 27. Oktober 2014

Verzweifelt zwischen ´Ich´ und ´Ich`

In dem dualistischen Selbstkonzept erfährt man sich selbst über die Relation Subjekt – Objekt. Und obwohl die moderne Philosophie sich immer wieder von dieser Betrachtungsweise trennt, Dualistische Theorien herrschen noch immer in unseren Enzyklopädien. Diese Tatsache finde ich etwa beunruhigend, da, falls ich die Vorlesung zufällig verpasse, und später nachschlagen will, bekomme ich ganz veraltete Informationen. Wie wenig in dem Fall Wikipedia, basiert auf Britanica, behilflich ist, zeigen hier ein paar Beispiele:
Wikipedia schreibt:
Informationsquellen für das Wissen über sich selbst findet der Mensch:

  • in der Beobachtung des eigenen Verhaltens
  • in der Bewertung des eigenen Verhaltens
  • in Äußerungen von Mitmenschen
  • in der Deutung der Reaktionen von Mitmenschen
  • im Vergleich mit Mitmenschen
    Anbei wissen wir von den Fernöstlichen Lehren, wie z.B. die Joga-Philosophie, dass man ebenso gut über sich Selbst über Selbsterfahrung lernen kann, wie Meditation, das Schweigen, Joga. Darüber schreiben die Quellen nicht, obwohl sich diese Lehren mittlerweile an den Universitäten und in den Akademien etabliert hatten.
    Weiterhin, Schreibt Wikipedia über die Theorien der Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich. Mittlerweile glaubt man auch nicht mehr, dass diese Persönlichkeit, die ständig von innerlichen Konflikten getrieben wird, einen einzig wahren Konzept des Ich darstellt. In der hinduistischen Welt zum Beispiel kommen auf das Ich unterschiedliche Komponente, die nur dann Sinn ergeben, wenn sie in der Harmonie mit einander Existieren. Dieses Ich ist ebenso kritisch wie ein dualistisches Ich, und dadurch ebenso gut ausgebildet.
    ´´Jede Selbstbildung entsteht durch soziales Rückspiegeln (Menschen spiegeln, meist unbewusst, in ihren Interaktionsangeboten implizit das Bild von uns wieder, das sie von uns haben) Das Rückspiegeln kann unser Selbst oder aber auch gefährden.´´ Wir sind, also, so Wikipedia, in unserer Selbstbildung von der Wahrnehmung und Handlung der andren Person abhängig. Dies scheint gewissermaßen ein sehr gefährlicher Gedanke zu sein, da er sehr leicht für Propagandazwecke benutzt werden kann, indem er jegliche selbstständige Position des Objektes negiert.
    Man könnte behaupten, das dualistisch-geprägte Gesellschaft hat seine Stärken, in dem es zum Beispiel stärker in die Richtung Karriere geprägt wird. Anderseits ist so eine Gesellschaft viel leichter zu überwachen, wovon sie sich auch mehr fürchtet. Vom anderen Sichtpunkt wiederum, wenn nicht das dualistische Ich, hätten wir keine Hipster, und das wäre schon etwa langweilig.

Freitag, 24. Oktober 2014

Elefant

Tante Maria sah auf dem Holzbock und schälte Kartoffel. Die Kartoffelschalen fielen in den Eimer, den sie vor sich, zwischen Ihren Beinen, gestellt hatte. Geschälte Kartoffel warf sie dann in den mit Wasser gefüllten Topf, der nur darauf wartete, auf dem Herd zum Kochen gestellt zu werden. So kochte sie und sang:
´O Elefant, o Elefant,
finden wir dein Brüderchen,
Finden wir es,
bevor es dunkel wird.
O Elefant, o Elefant´
So sang sie und man hörte sie weit hinter dem Küchenzelt, da wo sich die Männer zum Zigarren-rauchen trafen. Der eine oder der andere hielt mal einen Fläschchen dabei und teilte es mit dem Rest. Nur der Elefant war nicht dort, wo sie rauchten. Er fand sich immer stattdessen ein kleines Versteck, wie für sich gedacht, und lauschte Tante Maria´s Gesänge für sich selbst, ohne viel darüber nachzudenken.

Mal kam zu ihm das Kätzchen und murmelte verspielt. Elefant murmelte dann auch und so unterhielten sie sich eine Weile. In diesen Momenten stellte er sich vor, er wäre nicht mehr der Elefant, sondern hätte auch so ein weiches Fell und könnte auch so leise unter den Tischen und Bänken auf denen die Männer saßen, zwischen den abgestellten Bierflaschen, durchlaufen. So gern wäre er der kleinste und der stärkste und in den Momenten, in denen er sich mit dem Kätzchen so unterhielt, hatte er das Gefühl es wäre auch so.
Man wusste nicht mehr, wie alt Elefant war. Manchmal war es das Thema einer Wette zwischen den Männer, manche gaben ihm 20, manche 30 Jahre. Ansonsten wetteten immer die Männer, welches Huhn am stärksten ist, oder welche der Frauen heute am längsten zum singen bleibt. Und da Elefant es selber nicht so genau wusste, blieb das ein Geheimnis, das niemand kannte.
Elefant sah immer schon so aus, was auch für immer sein Vorteil sein sollte. Er änderte sich nicht, deswegen klagten auch die Zuschauer bei den Vorstellungen nicht, da jeder wusste, dieses Jahr wird man Elefant auch anschauen können. Elefant klagte auch nicht, aber klagen tat er ansonsten auch nie, wegen irgendwas, und schließlich saß er einfach da und wartete, bis auf seine Zeit auf der Arena verging.

Manchmal hatte man Fliegen in den Zelten, was besonders die Somnambule unerträglich fanden. Man ließ dann kleine, dunkle Tomaten liegen und dann verschwanden die Fliegen. Bald darauf verschwanden auch die Tomaten. Dann rief Tante Maria: ´Elefant, hast du denn unsere Tomaten gefressen?!´ und sang darauf ihre Lieder. Elefant saß dann in seinem Versteck und fragte das Kätzchen murmelnd, ob es das war, dass die Tomaten aufgefressen hatte. Irgendwie wusste er aber, dass es nicht so sein konnte, da das Kätzchen schließlich das Klügste war, was er kannte und hatte kleine Tomaten aus dem Zelt zum klauen nicht nötig.
Elefant dachte dann immer an die Mäuse. Die erschienen immer schließlich dann, wenn niemand es merkte und sie könnten die Tomaten wegfressen. Jeden Abend, nach der Vorstellung, als die Mitarbeiter-Zelte noch leer standen, da sich alle im Vorstellungszelt besauften, bastelte er an Mäuse-Fallen hinter seinem Schlafgemach. Am nächsten Tag, als alle Männer nach dem Abendrausch noch schliefen, verlegte er die Fallen in allen möglichen Orten, wo die Mäuse reinkommen könnten. Tag danach fand er zwar keine Mäuse drin, aber die Fallen musste man trotzdem reparieren und neu verlegen.

Nachts Schliefen Tante Maria und Onkel Phelippe in ihrem Bett, dass an dem Anderen Ende ihres Schlafzeltes gelegen war. Mal konnte Elefant lange nicht einschlafen und hörte etwas, was ihn mal an Weinen, mal nach Schnarchen erinnerte. Dann kam Tante Maria und sang ihm ein Lied und so schlief er ein.
Onkel Phelippe konnte mit einer Hand zwei enormer Schwere Blöcke anheben, deshalb nannten ihn alle ´Der Heber´. Sein Brustkorb war der breiteste deren aller Männer und sein Schädel glatt. Elefant schaute immer zu, als Onkel Phelippe seine Rasierklinge um ein Ledergürtel schärfte. Immer glitt die Klinge sanft über den Gürtel, bis auf sie so scharf war, dass Elefant sich nicht getraut hatte, näher an sie zu kommen. Sie lag auch immer bei den Sachen, die Onkel Phelippe bei seiner Toilette gebrauchte und blinzelte dort immer, als Elefant nicht einschlafen konnte.
Onkel Phelippe und Tante Maria waren immer da, seit dem Elefant sich erinnerte. Immer war auch der Circus da. Nur das Kätzchen kam jeden Jahr ein neues, noch klüger und stärker als das andere. Es hatte niemals angst vor den Männer, dachte Elefant, und das Kätzchen murmelte ihm entgegen.

Mal nahmen Onkel Phelippe und Tante Maria Elefant zum Dorf um den Stoff für die neue Kleider auszusuchen. Die Kleider nähte Tante Maria immer selbst, nach Maß, und Elefant freute sich immer darauf. Sogar die Socken und die Mützen strickte sie ihm selber und so lief er jeden Winter ganz neu angezogen. ´Na, freust du dich, mein Elefant?´ - fragte sie dann immer und obwohl Elefant nichts antwortete, blinzelten seine Augen von Freude.
Zu den Vorstellungen brauchte Elefant auch immer ´spezielle´ Kleidung. Man nahte ihm zu dieser Gelegenheit eine Tunika aus goldenen Seide, rötliche Hose und eine gelbe Mütze. Elefant gefiel diese Kombination und alle Frauen im Circus begeisterten sich für ihn, besonders, als ihm Tante Maria Rouge auf die Wangen gelegt hatte. ´Da ist unser Star!´ - schrien sie dann immer. Elefant sah nur schweigend da aber tief im inneren war er warm von dieser Aufmerksamkeit.
Im Dorf durfte Elefant sich auch alle mögliche Süßigkeiten aussuchen. Zum Süßigkeiten-Laden gingen die drei zum Schluss, als die Stoffe und Lebensmittel eingekauft waren. Elefant durfte sich dann ganze Menge Zeit nehmen und auswählen, was immer er wollte. Meistens liebte er weiß-goldene Honigbonbons. Mal nahm er drei von ihnen auf ein Mal in den Mund und leckte so lange, bis auf die milchige Mitte auf seine Zunge floss. Die schmeckte er eine Weile, schluckte und füllte ein warmes Gefühl in seinem Bäuchlein.

Damals, als Onkel Phelippe noch wilde, schwarze Locken auf dem Kopf trug, wurde Elefant bei der Vorstellung von einem Pferd auf die Arena getragen. Einmal aber passte ein von den Männer nicht auf und ist hinter dem Pferd zu nah gegangen. Der Pferd hüpfte plötzlich und Elefant fiel um. Nachdem musste er zwei Wochen lang auf seinem Schlafgemach liegen bleiben, und Tante Maria tat es dermaßen Leid, dass sie ihn seitdem nie wieder auf einem Pferd sitzen ließ. Danach schreckte sich Elefant trotzdem nicht von Pferden, er wüsste schließlich, dass die Pferde ebenso wie er schwach gegenüber den Männer waren und auch Angst fühlten, also ging er nach wie vor jeden Abend zum Pferdestahl.
Pferde nannte er in seinen Gedanken ´Prinzen´. Den ´Prinzen´ brach immer jemand etwas zum essen, worauf sie immer auf ihre Art und Weise mit dem Schwanz wackelten. Circus besaß zehn Pferde, wovon eine Hälfte ganz schwarz, die andere ganz weiß war. Nur der ´Sieger´ hatte einen weißen Pfeil auf seinem schwarzen Stirn. Immer, wenn die Pferde auf die Arena einmarschierten, ging der ´Sieger´ als erste, wenn also der weiße Pfeil in dem dunklen Eingang erschien, wusste man, die Pferde treten ein. ´Sieger´ hatte auch den ersten Platz in dem Pferdestahl. Man schaute bei ihm als erstem, ob er immer frisches Wasser hatte und man kämmte ihn häufig. Wann immer auch Elefant traurig war, ging er zum ´Sieger´. Er fürchtete sich nicht, dem Publikum als erster in die Augen zu schauen, dachte Elefant. Und ´Sieger´ schaute ihn tröstend entgegen an.

An diesem Abend waren alle Pferde ruhig. Ab und an hörte Elefant eine Fliege und das Wasser tropfte am anderen Ende des Stahls. Hinter dem Pferde-Zelt waren Gesänge der Männer und Frauen zu hören. Musik spielte. Plötzlich, ganz nah an dem Zelt, hörte er das Brummen eines vorbeifahrendes Wagens, was auch nicht ganz gewöhnlich war, weil man um die Uhrzeit keine Zuschauer mehr erwartete und der Circus lag auf keinem gut befahrenen Weg. Da Elefant aber schon mehrmals festgestellt hatte, dass alle möglichen dinge können Mal passieren, lauschte er weiter die Stille des Pferdestahls. Plötzlich hörte der Wagen zu brummen auf. Elefant hörte knacken der sich öffneten Türen, das zweite Knacken, das dritte, und der Wagen fuhr Weg. Eine Weile herrschte stille, und dann hörte er:
´Hilfe, Hilfe! Hört mich jemand?`
Elefant saß unbewegt. Schreiender Hilferuf in der Dunkelheit war etwas, worauf er in ganzem seinem Leben nicht gestoßen war, deswegen saß er da und wüsste erst mal nicht ganz genau, was in solchen Fällen zu tun ist.
´Hilfe, Hilfe!´
-kam wieder vom hinten. ´Was würde ein Kätzchen tun?´ Fragte sich Elefant, da er sich das immer fragte, wenn er nicht wusste, was er machen sollte. Letztlich war das Kätzchen das klügste und das mutigste, was er kannte.
´Bitte, helfen Sie mir!´
Im Elefant mischten sich die Gefühle der Verunsicherung und Verzweiflung. Und, trotzdem, wie sehr er sich jetzt vor dieser Dunkelheit fürchtete, dachte er an die Worte der Tante Maria, dass man immer behilflich sein sollte, wenn die Andere das brauchen, und beschloß dem Hilferuf zu folgen.
Auf dem Gras, hinter dem Pferdezelt lag eine Gestalt deren Hände und Füße zusammen gebunden waren. Auf den ersten Blick sah sie aus, wie einer der Männer, nur hatte sie einen schwarzen Anzug an, was keiner von dennen jemals tragen wurde, und das beruhigte Elefant.
´Bitte, entbinden Sie mich.` - fragte die Gestalt. Ihre Höflichkeit und die Tatsache, dass sie sich in dieser elenden Lage befand, ermunterten Elefant. Schließlich war er nicht gewöhnt, dass jemand ihn um irgendwas betete und schwächer als er war. Er kam näher.
Elefant erkannte in der Gestalt einen jungen Man, der sich so von ihm bekannten Männer deutlich unterscheidet hatte. Auf dem weißen Hemd merkte er einen rötlichen Fleck. Sein Gesicht war geschwollen und hatte blaue Flecken rund um die Augen.
´Bitte!´ - fragte nochmal der Man. Elefant schaute ihn schweigend an, zögerte aber nicht länger und fing rasch an die Gefessel zu lösen. Der Man schreckte erst mal die befreiten Hände und Füße auf, atmete mit Erleichterung und setzte sich hin auf dem Gras.
´Sie dachten, ich wäre tot.´ - klärte er. ´Aber mich, mich kann man nicht so leicht umbringen. Oh, ich kenne diese Schweine. Sie nehmen Dir alles weg, was Du noch hast und dann wollen sie Dir noch das Leben nehmen. Das ist ihre Art zu handeln.´
Elefant wusste nicht, um welche ´Sie´ es sich handelt, und überhaupt nicht, wieso bringen sich die Menschen gegenseitig um, schaute aber den Man neugierig an.
´Jetzt hab´ich gar nichts, aber mein Leben hab´ ich noch. Und Sie sind?´
Elefant war nicht gewöhnt, dass man ihn irgendwas fragte, und überhaupt nicht, wer er sei, es dauerte also eine Weile, bis auf er verzweifelt leise antwortete:
´Ich bin Elefant.´
´Das ist ja ein komischer Name`
´Ich bin auch komisch´
´Bist Du?´
´Da, auf der Arena. Ich nehme kleine Münzen. Was Du hast, gibst du, Elefant tanzt auf einem Bein, la la la.`
´Ich habe keine Münzen. Und sehe jetzt auch komisch aus.´ - sagte der Man.
Elefant schaute ihn an. ´Man nennt mich Billy on the Road´ - sagte er und lächelte schwach. Und in dem Moment, wo er so schwach lächelte, und überhaupt so schwach war, fühlte sich Elefant einig mit Billy. So selten fühlte er sich mit irgendjemandem einig. Und, obwohl es niemand mehr was sagte, dachte er an tausende Dinge, die er über Billy erfahren könnte. So saßen sie beide eine Weile, beide ohne Angst, wie zwei Brüder, die sich seit Jahren wieder begegnen. Niemand war stärker, oder schwächer, sie waren anders und einander ähnlich.
Dann stand Billy auf und reichte Elefant seine Hand. Elefant schob seine in die vom Billy rein. Es fing an zu regnen. Sie gingen, und der Weg war breit.


Sonntag, 19. Oktober 2014

Langzeitarbeitslosigkeit mit Psychopille zu heilen - der Wahnsinn des heutigen Tages

       Wie Jörg Blech im ´´Spiegel´´ (Nr. 41/6.10.2014) berichtet, werden öfters Langzeitarbeitslose als psychisch gestört eingestuft. Denen werden vom Artzt Psychopharmaka vorgeschrieben, was im Endeffekt ihre Probleme vertieft, statt sie zu heilen.
         ´Im Vergleich zu Erwerbstätigen haben Arbeitslose eine zweimal höhere Wahrscheinlichkeit, als klinisch depressiv eingestuft zu werden´, so Blech. Es ist noch immer einfacher für die Beamten und Ärtzte nach einem Grund zu suchen, das wissenschaftliche Grundlagen hat, statt sich mit der Sozialen Lage einen Arbeitslosen auseinander zu setzen. In wie Fern solche Einstellung zu dem Wissen über die Grundlagen der Arbeitslosigkeit beiträgt, weißt niemand, und niemand will es tatsächlich herausfinden, schließlich ist es viel unkomplizierter, jemand als seelisch krank einzustufen, weil wir dagegen ein Mittel haben, das angeblich wirkt – die Psychopharmaka.
           ´Egal, ob Depression, Angststörung oder körperliche Beschwerden ohne organisch fassbaren Befund – den Akten zufolge hatten 87 Prozent der Arbeitslosen mindestens eine psychiatrische Diagnose´. Man ist nicht arbeitslos, weil es Probleme gibt, sondern bloß krank. Wobei der wirkliche Zusammenhang zwischen den beiden Tatsachen verschwiegen wird und bleibt unbemerkt.
       ´In Wahrheit waren die allermeisten der Arbeitslosen gesund genug, um wieder arbeiten zu können´ - hier steckt die wesentliche Frage: ab wann können die Behörden feststellen, dass jemand arbeitsunfähig ist? Bedeutet tatsächlich eine Angststörung, dass man mit einem beruflich ´nichts anfangen kann´? Wenn wir alle Bürokräfte oder Krankenschwestern psychiatrisch untersucht hätten, würden wir bestimmt irgendwelche Berufsbedingte Krankheit feststellen, sollen sie aber deswegen für immer schon zuhause Bleiben, wo sich die Probleme nur weiterbilden werden?
   Weiterhin berichtet Blech, dass die Prozedur, die von den Medizinischen Mitarbeiter der Krankenversicherung sowie Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit haben die Arbeitslosen mit Teilweise widersprüchlichen Expertisen ins Wahnsinn getrieben. So ein Langzeitarbeitslose, ohne Aussichten auf einen Job (was ihm eigentlich am meisten helfen würde), muss jetzt auch mit der Überzeugung leben, dass er noch dazu krank ist und eigentlich weißt man nicht so genau, was man mit ihm machen sollte, damit er sich im Endeffekt noch machtloser fühlt.


              In dem ganzen Wahnsinn stellt sich nur die Frage: Wann werden wir endlich humanitär genug, um in diesem Problem den Menschen zu erkennen und die Behörden das verstehen werden, dass letztlich sind sie dazu da, den Menschen zu unterstützen, weil sie auch dank dem Menschen leben? Es ist immer einfacher jemanden einzustufen, als ihn zu verstehen. Wie sich das in der Wirtschaft widerspiegelt, ist eine andere Frage. Schade nur, dass es wie immer am Dialog fehlt.

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Ein Tag nach dem Leben

Immer, wenn der Zug vorbeifuhr, schüttelte es das Wasser in seinem Teeglas. Halb so schlimm, wenn der Glas auf dem Tisch abgestellt war. Manchmal müsste man aber aufpassen, dass man es nicht auf irgendwelchen, überall-liegenden, Schriften stellte. Und obwohl die allen Papiere längst nicht mehr so bedeutend waren, passte Ludwig sorgfältig auf, dass nichts darauf stand.
Als er hier eingezogen war, eben schon bei der Besichtigung, das meiste, worüber er dachte, dass es schwer wird sich daran zu gewöhnen, war die Größe der Wohnung. Er war Frisch aus der Zeit herausgerissen, in der ihm ganze drei Zimmern zu Verfügung standen, und diese neue, mickrige Appartament bedeutete jetzt den Anfang einer neuen, die er mit seinem vor-sich-hin-träumen befüllen wird.
Aus der alten Wohnung nahm er nicht allzu viel mit. Schließlich war es ihm wichtig, jetzt den Platz zu sparen, abgesehen davon, dass er plötzlich merkte, wie wenig Gebrauch er für die alle Gegenstände haben wird. Er behielt also ein Bett, Tisch, zwei Stühle und ein Regal und als den einzigen Luxus-Element das Yamaha-Piano.
Und so stapelten sich überall Notizen, Schrifte, Bücher und Arbeiten seinen früheren Studenten. Sie lagen oben auf dem Regal, auf dem Tisch und teilweise sogar auf dem Boden. Ludwig wüsste nicht wirklich, wieso er das alles noch behielt, vielleicht war der Zwang sich mit seinem früheren Leben zu beschäftigen stärker, als das lang andauernde Gefühl der Trauer, das die Gegenwart befüllte.

Manchmal erinnerte ihn der jetzige Stand der Dinge an einem Traum, als ob er kein Unterschied zwischen einer und anderen Minute spüren wurde. In diesem Traum ´spazierte´ er manchmal über das Zimmer und überlegte. Manchmal schaute er aus dem Fenster auf die Dächer der Stadt, in der Hoffnung, sie erscheinen ihm diesmal anders als sonst. Die blieben dagegen unberührt und unbeweglich, gleich arm und nichtssagend.
Manchmal spielte er eine Etude. Chopin liebte er immer, da er alle Persönlichkeiten interessant fand, die schwach und machtlos, und trotzdem zu großer Schöpfung fähig waren. Das Spielen, Notenlesen und der Klang der Musik bedeuteten für ihn den Rückkehr zu der alten, ihm gut bekannten Struktur und erfüllten ihn mit dem Gefühl der Ruhe, und so tröstete er sich selbst immer.
Die Toilette erledigte er in der Früh, beziehungsweise, als er aufstand. Seit er nicht täglich zu der Universität ging und auch Nichts mehr publizierte, gab es zwar keine Struktur mehr, an die man sich halten könnte, und manchmal blieb er bis zu späten Mittagsstunden im Bett.

Ludwig besetzte schon immer kein Telephon und, wenn man dringend wollte, konnte man ihn nur über die e-mail erreichen. Schon immer war es ihm unangenehm, gleich, wenn jemand das wollte, durch das Klingeln des Telephones aufgerufen zu werden. Das schreiben erlaubte ihm dagegen sich zu überlegen, was er im Moment dachte. Als er noch Freunde hatte, schrieb er denen immer zum Schluß irgendwas aufwärmendes, wie ´Mein Schätzchien´, oder ´Lieber´.
Aber Freunde gab es nicht mehr. Es gab niemand mehr, mit dem er seine Existenz bestätigen konnte. Lange hat es gedauert, diese Tatsache zu akzeptieren, schließlich aber hörte es auf ihn dermaßen zu stören und so fand er bestimmte Vorteile darin, was ihn auch beruhigte.

Ludwig ordnete gerne immer wieder erneut die alten Photographien. Die Menschen, die sich auf denen befanden, tasteten ihn nicht mehr an, sondern waren jetzt nur mit einem kleinen Augenblick aus der Vergangenheit verbunden. Als ob er sie jetzt hinten einem Spiegelwand anschauen wurde, wo es auf seinem Platz Stille herrschte, wie in einem leisen Zimmer ohne jegliches, starkes Licht. In den Momenten reflektierte er, spürte aber kein inneres Schmerz dabei, und anschließend packte alles wieder zusammen in das kleine Schuhkarton und legte wieder ab.
Meistens liebte er die Bilder seinen Studenten anzuschauen. Wie er sich noch erinnerte, nahm man sie immer ein Mal im Jahr auf, bei einem Professionellen Photographen. Der Photograph berechnete auch immer nicht allzu viel, da er gleich die ganze Gruppe zu aufnehmen hatte und deshalb Angebote machte. Ludwig begleitete immer seine Studenten zum Photographen und unterhielt sich gerne bezüglich allen technischen Einzelheiten. Er wusste, dass man bei solchen Aufnahmen ein spezielles Licht anbaute und sogar speziell die Gesichter der Studenten pudern musste. Wie bewunderte er immer die Effekte diesen Bemühungen. Dieses Technisches wissen und Handwerkliches können, machte für ihn immer das essenzielle diesen Bilder aus, auf denen seine Studenten wie Filmstars strahlten. So weit entfernt waren sie von seinen abstrakten Überlegungen über die Materie der Dinge, das Effekt freute ihn jedoch immer.
Jetzt gab es aber keine Studenten mehr, zumindest nicht in seiner Gegenwart. Sein Publikum, dass immer treu zuhörte, war nicht mehr da. Er fühlte sich nicht ganz ohne dieses Auditorium, mit der Zeit aber waren seine Gedanken schon zu weit, um jegliches Trauer zu spüren. Wie in einem Zug, in dem er sich ebenso gut woanders setzten könnte, aber der Platz, den er gewählt hatte doch besser war.

Er wüsste nicht mehr ganz genau, seit wann es ihm wichtig war die Gläser zu polieren. Er hatte zwar keinen bestimmten Zeitpunkt dafür, machte es aber immer ein Mal in der Woche. Und obwohl niemand kam, dem man in so einem Glas etwas einschenken könnte, pflegte er diese Angewohnheit. So standen sie immer und blinzelten tief versteckt in dem Küchenschrank.
Alle die Gläser, die Ludwig besaß, kaufte er mal zum Jahresjubiläum der Mauerfall. Es ist schwierig zu sagen, wem das Jubiläum wichtiger war, ihm, oder Marenike, auf jeden Fall besaß er seit dem Tag ein Komplett der Gläser, zu 50 Euro jeder.
Polieren tat er immer nach der gleichen Prozedur: er nahm ein Tablett und stellte es auf dem Tisch. Anbei versicherte er sich immer, dass das Tablett sicher stand und nicht zufällig verrutschte, obwohl er tief im Hinterkopf wusste, dass es unmöglich wäre. Dann stellte er die Gläser auf dem Tablett und holte ein Eimer Wasser. Er messte anbei auch immer die Temperatur des Wassers, da zu heißes Wasser angeblich die Gläser beschädigen könnte.
Dies tat er gern, obwohl es ihm bewusst war, dass das das einzige war, was Marenike nach sich hinterlassen hat, als sie ging. Marenike sagte immer ´Wir wären glücklicher, wenn du nun mehr Interesse an die Welt zeigen würdest´. Das verstand er nie, besonders in den Momenten, als sie, wie gewöhnt, diesen Satz beim Frühstücken ausgesprochen hatte. Inwiefern sollte sein Interesse irgendeine Welt ändern, war eine Unbekannte. Immer traf er sie dann auch in der Kantine zu Mittag und suchte verzweifelt nach einem Thema, schließlich sprachen sie über Marenikes Tagesplan.
Die Gläser trocknete er immer mit einem der beiden Tücher, die er dafür vorbereitete. Dann trocknete er auch das nasse Tablett und verließ die Küche.

Seit er ohne den Dritten in seinem Leben, aber auch ohne sich einsam zu fühlen lebte, spielte es für ihn nicht allzu große Rolle, ob er gepflegt, oder ungepflegt vorkam. Sich selbst betrachtete er im Spiegel ganz trocken, ohne jegliches Gefühl bezüglich seinem Aussehen. Nur die Zähne waren wichtig. Es konnte ihn zum Wahnsinn treiben, wenn sein Mund nicht frisch war. Er musste dann an alle alte Menschen in der Tram denken, die neben ihn standen oder saßen. Wenn sein Mund also nur ein wenig roch, kam er gleich auf Gedanken, sich mit seinem Alter auseinander zu setzen und das brachte ihm Kummer.
Er nutzte immer die Zahncreme, Zahnseide und noch ein ätherisches Öl, dass, besonders, als er Pfeife zu rauchen angefangen hatte, in der Reinigung der Zwischenräumen half. Er opferte dafür immer Halbe Stunde Zeit und ging sehr detailliert vor. Er kümmerte sich, dass die Seide immer frisch war und gleitete zwischen den Zähnen, bis die kleinste Chance, dass sich dort noch irgendwas befand, nicht mehr bestand. Er passte auf, dass das Öl nicht auf das Zahnfleisch geriet, da es immer ein unangenehmes Gefühl bringen könnte.
Diese detaillierte Zahnpflege tat er immer, auch in der Zeit, in der er nicht mehr seine Arbeiten von denen seiner Studenten unterscheiden konnte. Anbei waren nur Wörter, Hypothesen und Behauptungen anwesend und sie bildeten Struktur, die er vor den Augen hatte. Auch während des Prozesses tat er sie als das wichtigste unter allen wichtigen Dingen.
In der Zeit, in der Ludwig selber ein Student war, gab es kein Eigentum. Ein studentisches Beweis war ein Gemeingut und man freute sich, dass es ihn gab. Das Wissen war flüssig und gehörte jedem. Dennoch war das nicht mehr ´Ludwigs´ Zeit. Daran dachte er aber überhaupt nicht. Für ihn gab es eher keine Ära, keine Geschichte, sondern nur Struktur.
Ludwig dachte nicht mehr viel nach und spülte den Mund.

Er lag aufrecht und lauschte. Die Uhr arbeitete leise mit ihrem Tik-Tak. Im Augenwinkel sah er das schwache Licht der Straße und ab und zu hörte er den Zug vorbeifahrend. In der Dunkelheit, die ihn langsam sanft umhüllte, befand er sich in dem zustand des Halb-wach-seins, und diesen Zustand wollte er behalten. Auf irgendeine Weise wollte er noch nicht weiter gehen, spürte jedoch, hier endet sich seine Macht.
Er hörte die Uhr im Hintergrund, befand sich jedoch weit von diesem dunklem Zimmer, obwohl dessen Existenz ihm ganz bewusst war. Jetzt saß er im Boot. Das Boot war nicht groß und überall lagen Fischernetze rum. Überall roch es auch nach Fisch. Das dunkelgrüne Wasser plantschte um den Becken, das Meer war ruhig. Ludwig spürte den leichten Wind und die aufwärmende Sonne auf seinem Gesicht. Bevor er nach den Padeln zu suchen angefangen hatte, merkte er dass das Boot bewegt sich von selbst. Ruhig saß er also da und schaute Richtung Boden.
Auf dem Boot-Rand setzte sich eine weiße Möwe hin. Das strahlende Weiß, noch heller in der Sonne, kam Ludwig fast unnatürlich vor. So hell, dass man nicht lange hinschauen konnte, ohne die Augen zu bedecken. Die Möwe machte einen kleinen `Spaziergang´ am Rand des Bootes, schaute Ludwig interessiert an und flog wieder.
Das Boot näherte sich langsam dem Boden. Anfangs erkannte Ludwig ein dünnes Streifen, jetzt war die Linie komplex, wie eine Zeichnung, wo er den Strand erkannte. Das Wasser war nicht mehr Dunkel und man konnte den Boden sehen. Kleine Fische sammelten sich um den Boot herum und spielten miteinander wie junge Katzen, die erst zu sehen anfangen.
Ludwig spürte, wie die Sonnenstrahlen ihn durchstreifen und sein Inneres mit Wärme füllen. Er stieg aus dem Boot. Das warme Sand unter seinen Füßen brannte nicht, sondern gab ein angenehmes Gefühl. Ludwig sah ein Stein und setzte sich.
Lange geschah Nichts. Er saß auf dem Stein, mitten des Strandes, es war ihm warm von der Sonne und er lauschte die Stille. Vor ihm war Meer und alles war ruhig. Plötzlich fühlte er eine leichte Bewegung, als ob ein müdes Geist kommen würde, sich neben ihm auszuruhen. Ludwig sah sich um. Unten, am Strand, saß die Möwe.
Die Möwe schaute Ludwig eine Weile an, als ob sie sich etwas überlegen wurde. Dann sagte sie:
´Kein Fisch ist dumm, wenn er nach dem Brunnen sucht`.

Ludwig weinte und seine Tränen flossen unendlich.



Donnerstag, 9. Oktober 2014

Was bringt uns das nicht-konforme Verhalten?

   Als die Berliner Mauer fiel, wusste Georg Dreimann immer noch nicht, wem er das zu verdanken hatte, dass es ihm nie verboten wurde, zu schreiben.
Als er die Wahrheit über den Spiegel-Artikel versteckte, riskierte HGW XX/7 seine eigene Kariere, um die des Dreiman zu beschützen. Anfangs ein vielversprechender Staatsbeamte, endete er schließlich als einfacher Postbote. Ob er aber nicht derjenige war, der glücklich war?
.
Nicht-konformes Verhalten beginnt im Moment, in dem wir gegen eine Norm der Gruppe etwas unternehmen. Diesem, wie jedem Verhalten, liegen immer bestimmte Werte zugrunde. Um das Verhalten zu ändern, müssen sich erst mal diese Werte ändern, was schließlich zu einem Verhalten führt. Halbwegs dramatisch ist es, wenn wir von Anfang an den Werten der Mehrheit nicht zugestimmt hatten und endlich entschieden haben, zu handeln. In dem Fall jedoch, in dem wir aufgrund einer Erfahrung oder Reflexion, die Werte ändern, denen wir selbst auch zugestimmt haben, ist diese Veränderung jedoch ziemlich spektakulär. In beiden Fällen entscheiden wir zu handeln, der Impuls ist also schon stark genug, um in uns bestimmte Reaktion herab-zurufen.
In dem Moment, als wir nicht-konform handeln, entscheidet sich der Wahl, zwischen dem, was wir selbst denken und dem Einfluss der Gruppe. Wobei es uns nicht wichtig ist, was für die Konsequenzen unser Wahl haben wird. In dem Moment, in dem wir so entscheiden, entsteht in uns Klarheit und Überzeugt-sein von der Richtigkeit unserer Entscheidung.
Obwohl wir uns bewusst der Konsequenzen sind, spielen sie keine große Rolle. Besonders in Fällen, in denen wir gegen ein System entscheiden, ist es uns nicht wichtig, dass unser Tat unsere Kariere verhindern kann, dass wir aus einer, uns wichtigen, Gruppe ausgeschloßen werden können, dass wir manchmal sogar unser Leben riskieren.
Dieses Handeln erfüllt uns mit einem Gefühl der Selbstbestimmtheit und dadurch auch Glück und das nehmen wir als Belohnung. Wir gewinnen keine materielle Güter, unser Leben aber die neuen, morale Werte. In dem Moment also erscheint ein neuer, metaphysischer Sinn des Lebens.

Montag, 6. Oktober 2014

Der Vergessene

         15, 16, 17 – zählte er laut – 18, 19, 20. Diese sechs zahlen ließen ihn wissen, dass es schon sechs Tage vergangen sind, seit er das letzte mal alle gesammelten ausgaben der Tageszeitung weggeworfen hatte. Heute war es also Samstag. Ein Tag bis zum Sonntag. Morgen wird er sie alle zusammen bringen und für wegschmeißen vorbereiten. Dieses kleine Ritual bedeutete immer den letzten Tag der Woche, den Tag, an dem alles zu ende ging und an dem er wüsste morgen fängt alles neu an. Und dieser Tag hat gerade eben sein Kommen angekündigt.

Der Vergessene kümmerte sich ansonsten nicht um das Vergehen der Zeit. Seit Jahren schon fand er es sinnlos die Termine aufzuschreiben, seinen letzten Kalender hatte er in die Schublade mit der Bezeichnung ´Unwichtiges´ hineingesteckt, als er merkte, seit Anfang des Jahres hat sich eher nichts geändert. Schließlich ist er auch zum Schluß gekommen, sein leben ist ja eh so eintönig und ereignisslos geworden, dass es wirklich im ganzen kein Sinn ergab, das Zeugniß davon noch auf dem Papier zu haben. Die Stille seines Lebens würde zwar ab und an von jeglichen Terminen unterbrochen, an die errinerte ihn aber immer am Telefon die Stimme einer Person der Staatlichen Einrichtung, die sich darum kümmerte, dass es ihm einigermaßen gut ging, dass er mit allem nötigen versorgt war und diese seltenen Termine wahrnahm .

Die Telefonate nahm er immer zuverlässig und sorgfältig an. Es könnte ja schließlich etwas amtliches gewesen sein, als etwa dass er zu einem verhör gerufen würde oder das jemand geheiratet hätte oder gestorben wäre ( wer das sein sollte, kam ihm nicht in den Sinn, aber wer weiß, alles kann mal passieren). Oder Mary würde sich verspäten, da es ihr länger beim einkaufen ergangen sei, oder Hilde wäre krank.

Die Wohnung, in der der vergessen Lebte verfügte über ein Schlafzimmer, in dem er jeden Abend um 23.30 schlafen ging, als die Geräusche der Stadt Ohne Fluss, die ihn tagsüber wach hielten, langsam zu ruhe kamen , von einem Wohnzimmer und einer Küche, die Mary immer tüchtig am ende ihres Besuches aufgeräumt hatte. Dies tat sie immer als ihr tägliches Besuch zu Ende ging, obwohl der Vergessene schon längst keine echte Logik darin sah. Dieser Pflicht von ihr blieb für den Vergessenen vom Anfang bis zum Ende ganz unverstanden.
Mary ärgerte es immer als er sie Fräulein Mary nannte. - Diese Bezeichnung wäre angemessen für ein Dienstmädchen, nicht für eine Krankenschwester mit staatlichen Kompetenzen und noch dazu mittleres Alters, Mr T. - pflegte sie zu sagen. Allerdings nahm Ihre stimme eine etwa zornige Färbung an, als ob jemand etwas sagen würde, weswegen sie ihm nicht wirklich böse sein konnte, etwa als sie mit ihm zum Spaß nur streiten würde. Der Vergessene antwortete dann nun mit einem blasen Lächeln seiner eigener Art und sagte nichts mehr dazu.
Irgendwann ging sie dann wieder und lass ihn allein.

In dem zentralen Punkt des Wohnzimmers der Wohnung, die der vergessene bewohnte, befand sich das Telefon. Außer der Mikrowelle, war das der einzige Gerät, den er besitzte, der mit Strom versorgt würde. Diese Tatsache freute ihn jedes mal, wenn er daran dachte, weil er immer behauptete, Strom wäre viel teurer geworden und, abgesehen davon, ist es viel vernünftiger mit Gas den Haushalt zu versorgen. Und, obwohl man zu den Zeiten des Vergessenen schon längst andere Energiequellen gefunden hat, waren diese ihm dermaßen fremd und unantastbar, dass er sich konsequent weigerte, die ins Betracht zu nehmen. Ihm halfen auch gar nicht die Geschichten über der wunderbaren Solarenergie, die ihm bei der Jahresablesung der Junger Man erzählte, der früher Arbeitslos war und jetzt bei der Arbeit die Machenschaften des Amtes für Energieversorgung offen kritisierte, da er ´im tiefsten Herzen´ immer noch ´kontra´ war.
Wie alles in seiner bescheidenen Wohnung, war das Telefon altmodisch und kannte schon ´bessere´ Zeiten. Trotzdem, wenn er nur sagen konnte, das er etwas in dieser Wohnung liebte, war das das Telefon. Stunden lang starrte er es manchmal an, seine kreisförmige Tastatur, die man durch drehen betätigte, den rundlichen Hörer, der mit einem Kabelschnur mit dem Rest des Apparates verbunden war.
Ihm gefiel die zeit, in der er wartete, bis auf jemand anrief, in der er manchmal den Hörer am Ohr hielt, um sich die stumme Leitung anzuhören. Und obwohl es manchmal den ganzen Tag nichts geschah, verweilte er so den ganzen Nachmittag in der Stille, die er mit niemandem teilte.
Nicht mal mit Hilde.
Der Vergessene und Hilde trafen sich das erste Mal an der Jährlichem Treffen der Betreuten der Staatlichen Einrichtungen. Hilde nahm ein Gläßchen zu viel zu sich und erzählte ganz aufgeregt, dass die Jugend heutzutage ganz unverschämt ist und dass sich die Behörden schon längs kümmern sollten, das sie mehr Zeit bei sinnvollen Nachmittagsbeschäftigungen verbringen sollte, nicht nur sich ´in den frechen Gruppen durch die Stadt zu schleichen´.
Und obwohl sowohl die Behörden, als auch die Jugend dem Vergessenen ganz gleichgültig waren, hat er sich bald mit dieser Kameradin, deren Wangen die Narben nach der noch in ihren Mädchen-Jahren erlebten Akne bedeckten, ganz gut zurechtgefunden.
Es störten ihn nicht ihre manchmal stunden dauernde Monologe und Vorträge über die guten Sitten und mangeln der Leistungen von den Staatlichen Einrichtungen, die ab und an in einem Tropfen Alkohols, und zwar nicht dem der besten Sorte, gedünstet waren. Wöchentliche Treffen mit Hilde, die ein, ebenso wie er sein, bescheidenes Appartament drei Straßen weiter bewohnte waren bald zu Angewohnheit geworden und einem Priorität an jedem Mittwochabend.

Wenn der Vergessene noch jünger wäre, wäre sein erste Gedanke an jenem Morgen, den Hund zu futtern und mit ihm Spazieren zu gehen. Damals, als der Hund noch lebte, kaufte der Vergessene immer das Futter der Marke ´Billy` aus dem untersten Regal, was auch höchstwahrscheinlich schließlich den Hund umgebracht hatte.
An jenem morgen bellte der Hund aber nicht mehr, und er wusste auch nicht mehr genau seit wann. An jenem Morgen tat es ihm auf jeden Fall nicht mehr Leid.
Sein erster Gedanke hängte an der Tageszeitung, derselben, die ihm erlaubte, sich noch den heutigen Tag zu merken. Als er den kalten Boden unter den Füßen spürte, machte er kurze Bemerkung über den zustand seiner Pantoffeln und dachte, dass es schon an die Zeit wäre, zum ´Markt´ zu gehen. Mit diesem Gedanke im Hinterkopf ging er zu Türe.
Die Tageszeitung würde täglich zwischen 6.45 und 7.30 Uhr ausgeliefert, in die Briefkästen eingeworfen und wartete auf den Vergessenen um die gleiche Zeit jeweiliges Tages.
Seit der Vergessene merkte, es geschahen ganz selten jegliche Attentate, konzentrierte er seine Gedanken an dem Kulturteil. Und obwohl er nicht – nicht Mal in seiner Vergangenheit - zu den kultivierten Menschen gehörte, fand er es sinnvoll sich in diesen Teil genau einzulesen. Ganz abgesehen davon, dass er so gut wie nie ins Theater oder Kino ging, allein die Vorstellung, dass es die Orte gibt, in denen sich die Menschen versammeln um sich aufregende Dinge anzusehen, erfühlte ihn mit einem Gefühl der Erregung, was eine ziemliche Abwechslung in seinen Alltag brachte.
Immer versuchte er auch Mary dazu zu überreden, einer diesen Orte zu besuchen, die erklärte sich immer aber als ´zu beschäftigt um sich ihre Zeit mit irgendwelchen überflußigen Sachen zu vergeuden´.
Weiterhin blätterte er zu der Rubrik ´zu verschenken´. Dort standen immer irgendwelche, noch brauchbare Dinge, an die er die Hilde aufmerksam machen konnte. Die meistens interessante Annoncen hieb er sorgfältig auf und steckte in den weißen Umschlag, um sie zum Besuch am Mittwoch mitzunehmen.
Zum Schluß richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Artikel über die Migration zwischen Satelliten-Dörfer und Der Stadt Ohne Fluß. Man berichtete, es werden zusätzlich Bahne eingeführt, da der Verkehr in der letzten Zeit rasant gestiegen ist.
So vergingen erste stunden des Tages.

Meistens die Sachen, die der Vergessene besaß, besaß er schon seit der Zeit, an die er sich nicht mehr erinnerte. Auf Grund seines beschränkten Nutzen von denen war alles, was zu seinen Dingen gehörte, kaum verbraucht und in dem Zustand, den man zwar kein ´neuster Stand´nennen konnte, aber auf jeden Fall ´noch funktionstüchtig´ - auch, wenn es nicht so wäre, dauerte es lange, bis auf er sich entschied, etwas altes mit etwas neuem zu ersetzen.
Nicht, dass es ihn nicht freuen würde, sich eine Kleinigkeit praktischer Anwendung zu gönnen. Im Gegensatz, der Gedanke, etwas neues zu besitzen erfüllte ihn immer mit einem Hauch von Freude und befriedigte sein selten verspürtes Bedürfniss nach bürgerlichen Qualitäten des Lebens. Wie gut es ihm ging, als er durch die engen Straßen des ´Marktes´ schwebte und sich alles, Stück um Stück merkte. Und obwohl er immer wusste, was genau sein Ziel war – die Spontanität war nicht gerade eine seiner stärken – merkte er sich jegliche Kleinigkeit.
Er bewunderte den Fleiß der Marktfrauen, die ganz tüchtig alle die Wahren zählten, verpackten und den Kunden hinreichten. Der Klang der sich öffneten Kasse bedeutete immer, das die Transaktion abgeschlossen war und dem Kunde zu seiner Freude sein frisch-erworbenes Gut gehörte. Er zählte immer die Pfannen an dem Stand mit Haushaltswaren, von den ganz schweren, mit der schwarzen Beschichtung, bis zu den silbrigen, leichten Pfannen – anbei kontrollierte er immer, ob der Preis absteigend angelegt sei. Er hielt sogar bei den Damenstrumpfen an und fragte sich, ob sich Mary auf dem ´Markt´ auch welche mal gekauft hatte. Die wies ihn immer darauf hin, dass ´einem Man steht es nicht zu, Frauen ihres Alters dazu zu befragen´.


Ab und an kreuzten an ihn Menschen vorbei mit ganz verpackten Wägen, an denen sich riesige Berge den Waren stapelten, die zwar nicht alle vom ´Markt´ kamen, die jedoch ihre Eigentürmer sorgfältig in viele kleine Tütchen eingepackt und mitgenommen haben. Und, obwohl ihm die Gesichter von diesen Menschen ganz unlesbar und unbekannt vorkamen, müsste er bei dem Anblick von ihren verpackten Wägen an Hilde denken.
Er fragte sich öfters, woher sie alle Ihre Dinge her hatte. Manchmal, als er ihr beim Abwasch mitgeholfen hatte, verriet der Zustand der Exemplare ihrer Kollektionen nicht gerade mal die sauberste Herkunft, bei manchen dagegen war er sich sicher, dass sie sie irgendwo gegen Geld erworben hätte.
Als er schließlich bei dem Stand mit Pantoffeln angekommen sei, spürte er Müdigkeit und war schon genug durch den ´Markt´gegangen. Er beabsichtigte nicht allzu lange an den Wahl zu zweifeln – er kaufte ja den selben Paar jedes Jahr. Schweigend nahm er den selben Paar Schuen, gab dem Verkäufer die zerkniterten Scheine und ging.
Der Abendfrost war zu spüren.


In der Wohnungstür befanden sich drei Schlösse.
Normalerweise würde der Vergessene anwesend sein, als Mary ihr Abwasch erledigt hatte. Diesmal aber bettete er sie die Schlüssel mitzunehmen und die Türe sorgfältig abzuschließen, und zwar mit allen drei Schlössen, da es immer möglich sei, dass jemand einbrechen könnte. Und, obwohl er nicht auf die Idee kam, wer das sein konnte, die Tatsache der unverschlossenen Türen brachte ihn auf unangenehme Gedanken.
Obwohl Mary ihre Dienste schon seit Jahren geleistet hatte und als eine anvertraute Person galt, der Gedanke, jemand nahm die Schlüßel mit erfreute den Vergessenen ganz und gar nicht.
Dies zeigte sich auch an seiner Stimmung bezüglich der gewöhnlichen Sauberkeit und Ordnung, die sie nach sich hinterließ.
Er stand im Flur, mit der Papiertüte in der Hand und hängte sein Blick auf den abgenutzten Pantoffeln. Steckte die Tüte in den Wandschrank rein und zog die Pantoffeln an.

Im Kühlschrank befanden sich drei Tupaboxen, die entsprechend als ´Morgen´, ´Mittag´ und ´Abend´ beschriftet waren. Der Vergessene nahm das oberste Box, steckte es in die Mikrowelle und drückte den Knopf. Schweigend beobachtete er das Drehen des Untertellers und die Wanduhr. Er zählte fünf Minuten ab, nahm das Box und ging zum Tisch.
Schweigend Schluckte er und verdaute die Erbsen und Kartoffeln, die Mary vorbereitet hatte und, obwohl sie sich immer viel mühe gab, dass es ihm schmeckte, was sie gekocht hatte, empfand er die Mahlzeit als ganz eintönig, wie jeden Tag.
Der Vergessene wüsste nicht mehr, seit wann genau ihn Mary unterstützte. Die Betreuerin von den Staatlichen Einrichtungen meinte mal, Mary kam irgendwo aus irgendeinem der Satellit-dörfer. Über die Dörfler wüsste er, dass sie Täglich nach die Stadt Ohne Fluss fuhrten, um dort als Pfleger, Büro-angestellte oder Kontrolleure zu arbeiten. Manche waren auch bei der Tageszeitung in der Anzeigeannahme beschäftigt.
´Fräulein Mary´, wie er sie nannte, stand irgendwo im Alter von mitte 50. Der Vergessene wüsste nicht mehr, wie sie bei ihm angetroffen war. sie war eben da und kochte täglich und reichlich. Drei Mahlzeiten gab es immer, und immer etwas anderes, für jeden Tag der Woche. Ebenso bemühte sie sich um den Rest des Haushaltes.
Aber egal, wie viel Mühe sie sich gab, für ihn gehörte sie immer zu den ´Unsichtbaren´ Menschen. Er merkte sie kaum, als sie sich mit ihrer Arbeit bei ihm beschäftigte. Für ihn hinterließ ihre Anwesenheit Anzeichen von überall werdenden Sauberkeit und Ordnung und deswegen existierte sie auch in seiner Erinnerung. Diese Erinnerung war jedoch immer flüchtig und gleich vergaß er sie. Ihre kurze Gespräche beendete immer sein blases Lächeln und jeder kehrte danach zu seiner Beschäftigung zurück, beziehungsweise sie zu ihrer.
Da er selbst an nichts mehr glaubte, fragte er sich auch nicht mehr, ob die anderen es taten. Manchmal ging er zwar kirchen, aber eher um sich die Heiligen anzusehen und die Orgeln anzuhören. Dafür wählte er immer die Abendmesse, da ihm das Licht am besten entsprach.
Manchmal sah er Mary, wie sie in der einen von zwei Arbeitspausen die ihr von der Staatlichen Einrichtungen zugeschrieben waren, rauchend das heilige Bild an der Küchenwand betrachtete. Manchmal hörte sie auf zu rauchen und saß längere Zeit vor dem Bild. Angeblich dachte sie etwas anbei und sprach leise vor sich hin.
Was aber, dies stand außer seiner Vorstellungskraft.
Er beendete das Essen und kochte Tee. Der Tag war vorüber.



Erwacht

Wenn ich ab jetzt drei Jahre nach hinten blicke, fühle ich mich, als ob ich diese ganze Zeit in der Tiefe eines Ozeans verbracht hätte, wo es Stille herrscht und kein Licht einfließt... Jetzt bin ich erwacht.

(nach drei Jahren Einnahme vom Solian, 400 mg,
Diagnose: Paranoide Schizophrenie, Medikation


                                                 abgebrochen auf eigene Gefahr )