15, 16, 17 –
zählte er laut – 18, 19, 20. Diese sechs zahlen ließen ihn
wissen, dass es schon sechs Tage vergangen sind, seit er das letzte
mal alle gesammelten ausgaben der Tageszeitung weggeworfen hatte.
Heute war es also Samstag. Ein Tag bis zum Sonntag. Morgen wird er
sie alle zusammen bringen und für wegschmeißen vorbereiten. Dieses
kleine Ritual bedeutete immer den letzten Tag der Woche, den Tag, an
dem alles zu ende ging und an dem er wüsste morgen fängt alles neu
an. Und dieser Tag hat gerade eben sein Kommen angekündigt.
Der Vergessene
kümmerte sich ansonsten nicht um das Vergehen der Zeit. Seit Jahren
schon fand er es sinnlos die Termine aufzuschreiben, seinen letzten
Kalender hatte er in die Schublade mit der Bezeichnung ´Unwichtiges´
hineingesteckt, als er merkte, seit Anfang des Jahres hat sich eher
nichts geändert. Schließlich ist er auch zum Schluß gekommen, sein
leben ist ja eh so eintönig und ereignisslos geworden, dass es
wirklich im ganzen kein Sinn ergab, das Zeugniß davon noch auf dem
Papier zu haben. Die Stille seines Lebens würde zwar ab und an von
jeglichen Terminen unterbrochen, an die errinerte ihn aber immer am
Telefon die Stimme einer Person der Staatlichen Einrichtung, die sich
darum kümmerte, dass es ihm einigermaßen gut ging, dass er mit
allem nötigen versorgt war und diese seltenen Termine wahrnahm .
Die Telefonate
nahm er immer zuverlässig und sorgfältig an. Es könnte ja
schließlich etwas amtliches gewesen sein, als etwa dass er zu einem
verhör gerufen würde oder das jemand geheiratet hätte oder
gestorben wäre ( wer das sein sollte, kam ihm nicht in den Sinn,
aber wer weiß, alles kann mal passieren). Oder Mary würde sich
verspäten, da es ihr länger beim einkaufen ergangen sei, oder Hilde
wäre krank.
Die Wohnung,
in der der vergessen Lebte verfügte über ein Schlafzimmer, in dem
er jeden Abend um 23.30 schlafen ging, als die Geräusche der Stadt
Ohne Fluss, die ihn tagsüber wach hielten, langsam zu ruhe kamen ,
von einem Wohnzimmer und einer Küche, die Mary immer tüchtig am
ende ihres Besuches aufgeräumt hatte. Dies tat sie immer als ihr
tägliches Besuch zu Ende ging, obwohl der Vergessene schon längst
keine echte Logik darin sah. Dieser Pflicht von ihr blieb für den
Vergessenen vom Anfang bis zum Ende ganz unverstanden.
Mary ärgerte es
immer als er sie Fräulein Mary nannte. - Diese Bezeichnung wäre
angemessen für ein Dienstmädchen, nicht für eine Krankenschwester
mit staatlichen Kompetenzen und noch dazu mittleres Alters, Mr T. -
pflegte sie zu sagen. Allerdings nahm Ihre stimme eine etwa zornige
Färbung an, als ob jemand etwas sagen würde, weswegen sie ihm nicht
wirklich böse sein konnte, etwa als sie mit ihm zum Spaß nur
streiten würde. Der Vergessene antwortete dann nun mit einem blasen
Lächeln seiner eigener Art und sagte nichts mehr dazu.
Irgendwann ging
sie dann wieder und lass ihn allein.
In dem
zentralen Punkt des Wohnzimmers der Wohnung, die der vergessene
bewohnte, befand sich das Telefon. Außer der Mikrowelle, war das der
einzige Gerät, den er besitzte, der mit Strom versorgt würde. Diese
Tatsache freute ihn jedes mal, wenn er daran dachte, weil er immer
behauptete, Strom wäre viel teurer geworden und, abgesehen davon,
ist es viel vernünftiger mit Gas den Haushalt zu versorgen. Und,
obwohl man zu den Zeiten des Vergessenen schon längst andere
Energiequellen gefunden hat, waren diese ihm dermaßen fremd und
unantastbar, dass er sich konsequent weigerte, die ins Betracht zu
nehmen. Ihm halfen auch gar nicht die Geschichten über der
wunderbaren Solarenergie, die ihm bei der Jahresablesung der Junger
Man erzählte, der früher Arbeitslos war und jetzt bei der Arbeit
die Machenschaften des Amtes für Energieversorgung offen
kritisierte, da er ´im tiefsten Herzen´ immer noch ´kontra´ war.
Wie alles in
seiner bescheidenen Wohnung, war das Telefon altmodisch und kannte
schon ´bessere´ Zeiten. Trotzdem, wenn er nur sagen konnte, das er
etwas in dieser Wohnung liebte, war das das Telefon. Stunden lang
starrte er es manchmal an, seine kreisförmige Tastatur, die man
durch drehen betätigte, den rundlichen Hörer, der mit einem
Kabelschnur mit dem Rest des Apparates verbunden war.
Ihm
gefiel die zeit, in der er wartete, bis auf jemand anrief, in der er
manchmal den Hörer am Ohr hielt, um sich die stumme Leitung
anzuhören. Und obwohl es manchmal den ganzen Tag nichts geschah,
verweilte er so den ganzen Nachmittag in der Stille, die er mit
niemandem teilte.
Nicht
mal mit Hilde.
Der
Vergessene und Hilde trafen sich das erste Mal an der Jährlichem
Treffen der Betreuten der Staatlichen Einrichtungen. Hilde nahm ein
Gläßchen zu viel zu sich und erzählte ganz aufgeregt, dass die
Jugend heutzutage ganz unverschämt ist und dass sich die Behörden
schon längs kümmern sollten, das sie mehr Zeit bei sinnvollen
Nachmittagsbeschäftigungen verbringen sollte, nicht nur sich ´in
den frechen Gruppen durch die Stadt zu schleichen´.
Und obwohl
sowohl die Behörden, als auch die Jugend dem Vergessenen ganz
gleichgültig waren, hat er sich bald mit dieser Kameradin, deren
Wangen die Narben nach der noch in ihren Mädchen-Jahren erlebten
Akne bedeckten, ganz gut zurechtgefunden.
Es
störten ihn nicht ihre manchmal stunden dauernde Monologe und
Vorträge über die guten Sitten und mangeln der Leistungen von den
Staatlichen Einrichtungen, die ab und an in einem Tropfen Alkohols,
und zwar nicht dem der besten Sorte, gedünstet waren. Wöchentliche
Treffen mit Hilde, die ein, ebenso wie er sein, bescheidenes
Appartament drei Straßen weiter bewohnte waren bald zu Angewohnheit
geworden und einem Priorität an jedem Mittwochabend.
Wenn der
Vergessene noch jünger wäre, wäre sein erste Gedanke an jenem
Morgen, den Hund zu futtern und mit ihm Spazieren zu gehen. Damals,
als der Hund noch lebte, kaufte der Vergessene immer das Futter der
Marke ´Billy` aus dem untersten Regal, was auch höchstwahrscheinlich
schließlich den Hund umgebracht hatte.
An jenem morgen bellte der Hund aber nicht mehr, und er wusste auch
nicht mehr genau seit wann. An jenem Morgen tat es ihm auf jeden Fall
nicht mehr Leid.
Sein erster Gedanke hängte an der Tageszeitung, derselben, die ihm
erlaubte, sich noch den heutigen Tag zu merken. Als er den kalten
Boden unter den Füßen spürte, machte er kurze Bemerkung über den
zustand seiner Pantoffeln und dachte, dass es schon an die Zeit wäre,
zum ´Markt´ zu gehen. Mit diesem Gedanke im Hinterkopf ging er zu
Türe.
Die Tageszeitung würde täglich zwischen 6.45 und 7.30 Uhr
ausgeliefert, in die Briefkästen eingeworfen und wartete auf den
Vergessenen um die gleiche Zeit jeweiliges Tages.
Seit der Vergessene merkte, es geschahen ganz selten jegliche
Attentate, konzentrierte er seine Gedanken an dem Kulturteil. Und
obwohl er nicht – nicht Mal in seiner Vergangenheit - zu den
kultivierten Menschen gehörte, fand er es sinnvoll sich in diesen
Teil genau einzulesen. Ganz abgesehen davon, dass er so gut wie nie
ins Theater oder Kino ging, allein die Vorstellung, dass es die Orte
gibt, in denen sich die Menschen versammeln um sich aufregende Dinge
anzusehen, erfühlte ihn mit einem Gefühl der Erregung, was eine
ziemliche Abwechslung in seinen Alltag brachte.
Immer versuchte er auch Mary dazu zu überreden, einer diesen Orte zu
besuchen, die erklärte sich immer aber als ´zu beschäftigt um sich
ihre Zeit mit irgendwelchen überflußigen Sachen zu vergeuden´.
Weiterhin blätterte er zu der Rubrik ´zu verschenken´. Dort
standen immer irgendwelche, noch brauchbare Dinge, an die er die
Hilde aufmerksam machen konnte. Die meistens interessante Annoncen
hieb er sorgfältig auf und steckte in den weißen Umschlag, um sie
zum Besuch am Mittwoch mitzunehmen.
Zum Schluß richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Artikel über
die Migration zwischen Satelliten-Dörfer und Der Stadt Ohne Fluß.
Man berichtete, es werden zusätzlich Bahne eingeführt, da der
Verkehr in der letzten Zeit rasant gestiegen ist.
So
vergingen erste stunden des Tages.
Meistens die Sachen, die der Vergessene besaß, besaß er schon seit
der Zeit, an die er sich nicht mehr erinnerte. Auf Grund seines
beschränkten Nutzen von denen war alles, was zu seinen Dingen
gehörte, kaum verbraucht und in dem Zustand, den man zwar kein
´neuster Stand´nennen konnte, aber auf jeden Fall ´noch
funktionstüchtig´ - auch, wenn es nicht so wäre, dauerte es lange,
bis auf er sich entschied, etwas altes mit etwas neuem zu ersetzen.
Nicht, dass es ihn nicht freuen würde, sich eine Kleinigkeit
praktischer Anwendung zu gönnen. Im Gegensatz, der Gedanke, etwas
neues zu besitzen erfüllte ihn immer mit einem Hauch von Freude und
befriedigte sein selten verspürtes Bedürfniss nach bürgerlichen
Qualitäten des Lebens. Wie gut es ihm ging, als er durch die engen
Straßen des ´Marktes´ schwebte und sich alles, Stück um Stück
merkte. Und obwohl er immer wusste, was genau sein Ziel war – die
Spontanität war nicht gerade eine seiner stärken – merkte er sich
jegliche Kleinigkeit.
Er bewunderte den Fleiß der Marktfrauen, die ganz tüchtig alle die
Wahren zählten, verpackten und den Kunden hinreichten. Der Klang der
sich öffneten Kasse bedeutete immer, das die Transaktion
abgeschlossen war und dem Kunde zu seiner Freude sein
frisch-erworbenes Gut gehörte. Er zählte immer die Pfannen an dem
Stand mit Haushaltswaren, von den ganz schweren, mit der schwarzen
Beschichtung, bis zu den silbrigen, leichten Pfannen – anbei
kontrollierte er immer, ob der Preis absteigend angelegt sei. Er
hielt sogar bei den Damenstrumpfen an und fragte sich, ob sich Mary
auf dem ´Markt´ auch welche mal gekauft hatte. Die wies ihn immer
darauf hin, dass ´einem Man steht es nicht zu, Frauen ihres Alters
dazu zu befragen´.
Ab und an kreuzten an ihn Menschen vorbei mit ganz verpackten
Wägen, an denen sich riesige Berge den Waren stapelten, die zwar
nicht alle vom ´Markt´ kamen, die jedoch ihre Eigentürmer
sorgfältig in viele kleine Tütchen eingepackt und mitgenommen
haben. Und, obwohl ihm die Gesichter von diesen Menschen ganz
unlesbar und unbekannt vorkamen, müsste er bei dem Anblick von ihren
verpackten Wägen an Hilde denken.
Er fragte sich öfters, woher sie alle Ihre Dinge her hatte.
Manchmal, als er ihr beim Abwasch mitgeholfen hatte, verriet der
Zustand der Exemplare ihrer Kollektionen nicht gerade mal die
sauberste Herkunft, bei manchen dagegen war er sich sicher, dass sie
sie irgendwo gegen Geld erworben hätte.
Als er schließlich bei dem Stand mit Pantoffeln angekommen sei,
spürte er Müdigkeit und war schon genug durch den ´Markt´gegangen.
Er beabsichtigte nicht allzu lange an den Wahl zu zweifeln – er
kaufte ja den selben Paar jedes Jahr. Schweigend nahm er den selben
Paar Schuen, gab dem Verkäufer die zerkniterten Scheine und ging.
Der Abendfrost war zu spüren.
In der Wohnungstür befanden sich drei Schlösse.
Normalerweise würde der Vergessene anwesend sein, als Mary ihr
Abwasch erledigt hatte. Diesmal aber bettete er sie die Schlüssel
mitzunehmen und die Türe sorgfältig abzuschließen, und zwar mit
allen drei Schlössen, da es immer möglich sei, dass jemand
einbrechen könnte. Und, obwohl er nicht auf die Idee kam, wer das
sein konnte, die Tatsache der unverschlossenen Türen brachte ihn auf
unangenehme Gedanken.
Obwohl Mary ihre Dienste schon seit Jahren geleistet hatte und
als eine anvertraute Person galt, der Gedanke, jemand nahm die
Schlüßel mit erfreute den Vergessenen ganz und gar nicht.
Dies zeigte sich auch an
seiner Stimmung bezüglich der gewöhnlichen Sauberkeit und Ordnung,
die sie nach sich hinterließ.
Er
stand im Flur, mit der Papiertüte in der Hand und hängte sein Blick
auf den abgenutzten Pantoffeln. Steckte die Tüte in den Wandschrank
rein und zog die Pantoffeln an.
Im Kühlschrank befanden sich drei Tupaboxen, die entsprechend
als ´Morgen´, ´Mittag´ und ´Abend´ beschriftet waren. Der
Vergessene nahm das oberste Box, steckte es in die Mikrowelle und
drückte den Knopf. Schweigend beobachtete er das Drehen des
Untertellers und die Wanduhr. Er zählte fünf Minuten ab, nahm das
Box und ging zum Tisch.
Schweigend Schluckte er und verdaute die Erbsen und
Kartoffeln, die Mary vorbereitet hatte und, obwohl sie sich immer
viel mühe gab, dass es ihm schmeckte, was sie gekocht hatte, empfand
er die Mahlzeit als ganz eintönig, wie jeden Tag.
Der Vergessene wüsste nicht mehr, seit wann genau ihn
Mary unterstützte. Die Betreuerin von den Staatlichen Einrichtungen
meinte mal, Mary kam irgendwo aus irgendeinem der Satellit-dörfer.
Über die Dörfler wüsste er, dass sie Täglich nach die Stadt Ohne
Fluss fuhrten, um dort als Pfleger, Büro-angestellte oder
Kontrolleure zu arbeiten. Manche waren auch bei der Tageszeitung in
der Anzeigeannahme beschäftigt.
´Fräulein Mary´, wie er sie nannte, stand
irgendwo im Alter von mitte 50. Der Vergessene wüsste nicht mehr,
wie sie bei ihm angetroffen war. sie war eben da und kochte täglich
und reichlich. Drei Mahlzeiten gab es immer, und immer etwas anderes,
für jeden Tag der Woche. Ebenso bemühte sie sich um den Rest des
Haushaltes.
Aber egal, wie viel Mühe sie sich gab, für
ihn gehörte sie immer zu den ´Unsichtbaren´ Menschen. Er merkte
sie kaum, als sie sich mit ihrer Arbeit bei ihm beschäftigte. Für
ihn hinterließ ihre Anwesenheit Anzeichen von überall werdenden
Sauberkeit und Ordnung und deswegen existierte sie auch in seiner
Erinnerung. Diese Erinnerung war jedoch immer flüchtig und gleich
vergaß er sie. Ihre kurze Gespräche beendete immer sein blases
Lächeln und jeder kehrte danach zu seiner Beschäftigung zurück,
beziehungsweise sie zu ihrer.
Da er selbst an nichts mehr glaubte, fragte er
sich auch nicht mehr, ob die anderen es taten. Manchmal ging er zwar
kirchen, aber eher um sich die Heiligen anzusehen und die Orgeln
anzuhören. Dafür wählte er immer die Abendmesse, da ihm das Licht
am besten entsprach.
Manchmal sah er Mary, wie sie in der einen von
zwei Arbeitspausen die ihr von der Staatlichen Einrichtungen
zugeschrieben waren, rauchend das heilige Bild an der Küchenwand
betrachtete. Manchmal hörte sie auf zu rauchen und saß längere
Zeit vor dem Bild. Angeblich dachte sie etwas anbei und sprach leise
vor sich hin.
Was aber, dies stand außer seiner
Vorstellungskraft.
Er beendete das Essen und kochte Tee. Der Tag
war vorüber.